Kapitel 1

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Melanie hatte sich verirrt. Sie ging nun seit Wochen immer wieder in den Wald und genoss die Ruhe der Natur, ließ den Duft der Bäume und die ersten Frühlingssonnenstrahlen auf sich wirken. Doch heute war sie weiter vom Weg abgekommen als sonst. Sie sah auf ihr Handy, noch etwa zwei Stunden, bis die Dämmerung begann.
Das Mädchen blickte sich um, versuchte etwas zu finden, das ihr bekannt vorkam. Die Bäume standen dicht zusammen und es drang nur wenig Licht durch das Blätterdach. Der Boden war mit braunen Kiefernadeln bedeckt und ihre Schritte verursachten kein Geräusch, sofern sie nicht gerade auf einen Ast trat. Sie strich sich die braunen Haare zurück und steckte das Handy wieder weg, hier draußen würde sie kein Signal bekommen. Sie fragte sich, wie sie so abwesend hatte sein können, dass sie nicht einmal mehr wusste, aus welcher Richtung sie gekommen war.
Letztendlich beschloss sie erst einmal geradeaus zu laufen. Die Hoffnung von jemandem gefunden zu werden hatte sie nicht, da sie ihrer Großmutter nicht erzählt hatte, wo sie spazieren ging. Die alte Frau war alles, was ihr an Verwandtschaft geblieben war, doch sie wusste, ihre Großmutter würde es nicht gutheißen, dass Melanie allein im Wald umherstreifte. Im Nachhinein betrachtet hatte sie damit nicht ganz unrecht, doch die Brünette verdrängte den Gedanken daran und lauschte den zwitschernden Vögeln.

Eine Gänsehaut legte sich über ihre Arme, die von einer dünnen Jacke bedeckt waren. Alarmiert blieb sie stehen und sah sich erneut um. Sie konnte keine Vögel mehr hören, nur das leise Geräusch von Holz auf Holz, als der Wind durch die Zweige wehte. Gerade wollte Melanie weiter laufen, als sie im Unterholz gelbe Augen ausmachen konnte.
Langsam kam das Tier näher, den Kopf gesenkt, den Blick aber starr auf das Gesicht des Mädchens gerichtet, welches erstarrte. Melanie hatte gewusst, dass es Gerüchte über Wölfe in diesem Waldgebiet gab, doch sie hatte sie nicht ernst genommen. Nun stand sie dem Resultat gegenüber. Das Tier bleckte die Zähne und stellte grollend das Fell auf, langsam trat es näher. Vorsichtig setzte sie einen Fuß zurück und wollte langsam zurück weichen. Das Vorhaben verwarf sie aber, als sie hinter sich ein weiteres Knurren vernahm. Langsam drehte sie ihren Kopf und entdeckte einen zweiten Wolf, der dem ersten zum Verwechseln ähnlich sah. Das Fell war nur ein wenig dunkler. Melanie zwang sich, den Tieren nicht in die Augen zu sehen und blieb so stehen, wie sie gerade stand. Ihre Gedanken waren wie leer gefegt.
Sie fragte sich, weshalb sie so oft in den Wald gehen musste. Sie konnte es sich nicht erklären, doch es war ein Zwang, tief in ihrem Inneren. Wäre sie doch nur Zuhause geblieben.
Ungehindert näherten sich die knurrenden Wölfe weiter von beiden Seiten. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie über Wölfe wusste, doch alles was ihr einfiel war, dass Augenkontakt eine Herausforderung darstellte, weshalb sie genau das stur vermied. Ihr Herz klopfte schnell und sie wusste, dass sie Angstgeruch ausstrahlte, doch sie konnte nichts dagegen tun.

Die Tiere waren beide nur noch etwa zwei Meter von ihr entfernt und das Knurren wurde noch etwas lauter, bis plötzlich ein durchdringender Pfiff ertönte. Die Wölfe stellten die Ohren auf und blieben stehen, die Leftzen allerdings immer noch hochgezogen. Links von Melanie drangen laute Geräusche aus dem Unterholz und ein blondes Mädchen schob sich zwischen den Ästen einer jungen Kiefer und hohen Farnen hindurch.
"Was soll denn das? Ihr könnt doch nicht einfach abhauen!", beschwerte sie sich und ging ohne Furcht auf die Wölfe zu. Diese ließen nun die Drohhaltung fallen, schienen aber noch immer nicht zurückweichen zu wollen, als die Blondine sagte: "Los, lasst die Frau in Ruhe!" Melanie beobachtete verwirrt, wie die andere sich vor sie stellte und den ersten Wolf anstarrte, sie gab dabei keinen Ton von sich.
"Genug." Das Wort schien den Unterschied gemacht zu haben, denn plötzlich setzte der Wolf sich und ließ die Zunge heraus hängen. Als das Mädchen dann den zweiten Wolf fixierte, lief der in einem kleinen Bogen um sie herum und setzte sich direkt neben den anderen. "Sehr gut", lobte sie und strich beiden einmal über den Kopf, dann wandte sie sich an Melanie.

Die blauen Augen wanderten von unten nach oben über ihren Körper und blieben bei ihren Augen hängen. Ein warmes Gefühl erfasste Melanie und ihr Herz machte einen Sprung, den sie sich nicht erklären konnte. Ganz kurz glaubte sie, Überraschung und einen bernsteinfarben Schimmer in den Augen der Blondine gesehen zu haben, doch als sie blinzelte war der Moment vorbei.
"Hey, tut mir echt Leid, dass die beiden dich erschreckt haben! Ich bin Luna", stellte sich die Blondine freundlich vor. Melanie zwang sich zu einem Lächeln und winkte ab. "Schon okay, ich bin Melanie. Du bist ja gerade rechtzeitig hier gewesen." Sie sah sich das Mädchen näher an und stellte fest, dass ihr irgendwas an ihr bekannt vorkam. "Sag Mal, kennen wir uns?" Luna schien einen Moment nachdenklich, ehe ihr Gesicht sich aufhellte. "Wir gehen auf dieselbe Schule, du bist im Abschlussjahrgang oder?" Melanie grinste und erinnerte sich jetzt, die Andere auf dem Gang und in der Mensa schon hin und wieder einmal gesehen zu haben. "Stimmt!"
Einer der Wölfe winselte und stupste Luna an der Hand an. "Was denn, schon ungeduldig?", fragte sie lachend und sah dann entschuldigend zu Melanie. "Ich muss wohl weiter. Sehen wir uns mal?" Die Brünette nickte lächelnd und sah zu, wie Luna und die Wölfe weiter liefen.

"Moment!", rief sie hinterher, als ihr wieder einfiel, weshalb sie in diese Situation geraten war. Luna drehte sich noch einmal um, während der graue Pelz der Wölfe bereits im Dickicht verschwand. "Wie komme ich aus dem Wald raus?" Die Blondine grinste breit und antwortete: "Siehst du den abgebrochenen Baum dort hinten? Von da aus nach rechts und immer geradeaus, dann bist du bald wieder auf den üblichen Wegen, nach rechts, wenn du Richtung Bahnhof willst und nach links, zum Friedhof."
Bevor Melanie sich bedanken konnte war das Mädchen zwischen den Bäumen verschwunden.

~ ~ ~

"Jungs, nicht so schnell! Was sollte das denn bitte?" Die beiden Wölfe beendeten ihre gegenseitige Verfolgungsjagd und kehrten zu Luna zurück. Als sie angekommen waren wandelten sie sich und die Blondine reichte jedem von ihnen eine Hose zum Überziehen.
"Wir konnten sie doch nicht einfach so in unserem Revier herumstreifen lassen!", sprach der eine Junge, seine dunkelblonden Locken fielen in seine Stirn und die blauen Augen funkelten entrüstet. Sein Zwillingsbruder stimmte nicht weniger überzeugt zu und beide sahen Luna an, warteten, wie ihre Schwester ihnen widersprechen würde.
"Also zunächst einmal ist das nicht unser Revier sondern meines. Ihr wisst genau, dass euer Abschnitt erst bei der kleinen Höhle beginnt. Zweitens ist sie häufiger im Wald unterwegs und richtet dabei keinen Schaden an, zumal sie immer innerhalb meines Reviers bleibt. Und das wichtigste: Selbst wenn es euer Revier gewesen wäre, gibt euch das nicht das Recht, andere Menschen einzuschüchtern. Die haben vor Wölfen schon genug Angst. Verstanden?" Die Jungen wechselten einen Blick, bevor sie zeitgleich seufzten und den Blick senkten, um ihrer großen Schwester den gebührenden Respekt zu zeigen.

"Du? Was war das für ein Geruch, als ihr euch angesehen habt?" Luna sah ihren jüngeren Bruder irritiert an und erinnerte sich an den Moment zurück. Sie hatte bemerkt, dass etwas seltsam gewesen war, als sie in die hellbraunen Augen der anderen gesehen hatte. Ihre wölfische Seite hatte aufjaulen wollen und ihr Herzschlag hatte für einen Moment völlig ausgesetzt. Sie wusste nicht genau, was das bedeutete, was sie wusste war aber, dass sie das nicht mit ihren Brüdern klären wollte.
"Ich weiß nicht was du meinst. Los, weiter jetzt, wir müssen immerhin noch die Westgrenze kontrollieren. Diesmal bleibt ihr Mensch, für heute habt ihr genug angestellt." Das Mädchen ignorierte das enttäuschte Grummeln ihrer Brüder und entledigte sich ihrer Jeans, des Shirts und auch ihrer Unterwäsche. Die Jungs zogen weiter, doch sie würde sie schnell wieder einholen. Luna atmete einmal tief durch und konzentrierte sich dann auf ihre tierische Seite, um die Wandlung einzuleiten.

Als sie die vielen Gerüche im Wald wahrnahm stach einer besonders hervor, der ihr bisher nur wage bekannt vorkam. Es war Melanies Geruch, der langsam verflog, sie war schon eine ganze Weile allein herum geirrt, bevor Simon und Toby sie gefunden hatten. Luna spürte das Verlangen nach einem Heulen in sich aufsteigen und setzte sich schnell in Bewegung, um den Trieb zu unterdrücken.
Sie fragte sich, weshalb sie das Mädchen nicht schon früher getroffen hatte. Natürlich hatten sie sich in der Schule Mal gesehen, doch das hatte nie solche Gefühle in ihr ausgelöst. Generell hatte sie noch nie so heftig auf eine Person reagiert.
Sie konzentrierte sich auf den Boden unter ihren Pfoten, den Wind in ihren Fell und die Düfte und Geräusche des Waldes, um die Gedanken endlich wieder auszuschalten.

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Hey meine Lieben!
Ich hoffe, euch hat das erste Kapitel gefallen ^^

Liebe Grüße, eure SerenaTopas

Wolfsbrut - Die Gefährtin (gxg)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt