Kapitel 11

6.6K 237 42
                                    

Dunkelheit. Schwere. Freiheit. Fliegen. Schmerzlos.

Schmerz. Angst. Fesseln. Gefangen. Allein.

Ich versuche, die Augen zu öffnen. Schaffe es nicht. Es geht zu schwer.

Ich spüre warme Hände an meinen Armen, die mir eine Gänsehaut verursachen. "Amelie! Scheiße, mach die Augen auf, hörst du??? Scheiße, wehe du tust mir das auch noch an!", brüllt jemand und der Atem der Person geht schnell und flach.

Atemlos. Ängstlich. Wütend.

Sie hat Angst, begreife ich. Angst um... mich???

Ich strenge mich an und meine Lider fliegen auf. Zu hell. Scheiße, wieso ist das alles so verdammt hell?

Meine Augen tränen, aber ich zwinge mich trotzdem, sie offen zu lassen. Langsam kann ich wieder sehen und versuche die Person zu erkennen, die sich über mich beugt.

Ein Mädchen? Oder... doch ein Junge? Ein Junge.

Dann erkenne ich die Person. Lucas.

Ich höre, wie er erleichtert und zittrig einatmet und dann spüre ich, wie er seinen Kopf an meiner Schulter vergräbt, die Hände immer noch fest auf meine Arme gepresst. Sein heißer Atem streicht über meinen Hals und lässt mich erzittern.

Ich setze mich vorsichtig auf, sein Kopf immer noch auf meiner Schulter. Lucas hebt ihn langsam von mir und starrt mich an. Abwartend.

Seine Augen sind glasig und das Braun wirkt ängstlich. Wie kann eine Farbe ängstlich wirken? Ich weiß es nicht.

Ich schaue mich um und analysiere die Umgebung. Bett, Schrank, Schreibtisch.

Wir sind in Lucas' Zimmer. Hat er mich etwa hierher... getragen? Wie peinlich... Verdammt peinlich sogar.

Ich merke, dass der Druck an meinen Arm langsam nachlässt und mein Blick wandert langsam nach unten. Die tiefen Schnitte sind fest zusammengetackert. Und haben aufgehört zu bluten.

Mir ist schwindlig.

"Warst...", krächze ich heiser und meine Stimme bricht. Ich räuspere mich und versuche es noch einmal: "Warst du das? Und hast du mich etwa... hierher getragen?" Beim ersten Teil des Satzes deute ich mit dem Kinn auf meine zusammengeflickten Arme, die einfach nur schrecklich aussehen.

"Ja.", antwortet er leise und beißt sich kurz auf die Lippe. "Zu beidem.", setzt er noch hinzu und fährt sich durch die Haare. Ich starre ihn an und meine Augen werden groß.

Lucas' Sicht

*kurz nachdem Lucas aus Amelies Zimmer verschwunden ist*

Ich klettere aus dem Fenster und springe auf die graue asphaltierte Straße. Mein Blick fällt auf einen Typen, der neben einer Laterne steht und kotz. Wie ekelhaft.

Verdammt, was ist nur mit mir los? Dieses Mädchen macht mich wahnsinnig. Ich kenne sie erst seid kurzem und sie kann schon in mein Inneres sehen. Das ist mir echt nicht geheuer.

Aber sie... sie leidet so viel mehr als ich. Ihr Körper... da waren unglaublich viele Schnitte und so viele blaue Flecken. Wie erträgt sie das nur? Wie hält sie all diesen verdammten Schmerz aus?

Außerdem ist sie viel zu dünn... Isst sie zu wenig? Zu wenig, oder gar nicht...?

Ich hasse mich dafür, dass ich sie in diesem Zustand allein lassen muss. Sie braucht jetzt jemanden. Jemanden, der für sie da ist und der sich um sie kümmert.

Aber ich muss checken, ob meine Mom wieder zu Hause ist und ob es ihr gut geht. Ob sie nüchtern ist.

Ich jogge bis nach Hause durch die kalte Luft der stinkenden Stadt. Dort angekommen fahre ich mir nochmal nervös durch die Haare und betrete dann das Haus. Unser Haus. Mein Haus. Ihr Haus.

Rette mich, wenn du kannstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt