Kapitel 18

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Vier Stunden.

Vor vier Stunden bin ich bei Lucas losgegangen. Jetzt lungere ich schon seit fast drei einhalb Stunden vor unserer Haustüre herum und traue mich nicht, hineinzugehen. Ich will meiner Mutter nicht begegnen. Meinem Vater schon gar nicht.

Schließlich beiße ich mir auf die Unterlippe und gehe zur Türe. Ich schließe mit zitternden Fingern auf und gehe in die Wohnung.

"Amelie? Amelie, bist du das?", höre ich die schrille Stimmer meiner Mutter und verziehe meinen Mund. Ich habe gehofft, dass ich jetzt allein sein kann.

Ihre Schuhe klappern auf dem Holzfußboden, als sie auf mich zu kommt. Ihre Augen sind verweint. Rot und angeschwollen, so, wie meine es oft sind.

Ich sage nichts. Ich will nicht mit ihr sprechen. Sie hat jahrelang nichts unternommen. Hat zugelassen, dass er mich schlägt. Hat zugelassen, dass ich verletzt werde. Und sie hat nicht einmal bemerkt, dass ich mich ritze.

"Amelie. Bitte Kind... wir müssen reden.", höre ich ihre flehende Stimme. Ich sage kein Wort und schaue sie stumm an.

"Nun gut. Dann werden wir das eben hier besprechen.", murmelt sie in ihren nicht vorhandenen Bart.

"Ich wusste nicht, was dein Vater tut. Ich dachte, er redet nur mit dir. Wirklich, ich hatte keine Ahnung, dass er dir weh tut. Ich habe heute zum ersten Mal etwas davon mitbekommen. Er... er ist weg. Ich habe ihn rausgeworfen. Er hat mir alles voller Stolz erzählt und war auch noch der Meinung, er wäre im Recht. Schatz, bitte, verzeih' mir. Und... willst du mir nicht endlich erzählen, was wirklich mit Maria passiert ist?", sprudelt sie hervor. Ihre Stimme ist so sanft wie nie, auch, wenn sie am Ende bricht. Ich habe das Bedürfnis, von ihr in den Arm genommen zu werden. Zum ersten Mal, nach langer Zeit.

"Er hat sie umgebracht, Mom. Dad hat Maria getötet. Weißt du noch, sie hat am Tag vor ihrem Tod eine drei nach Hause gebracht und euch erzählt, dass sie Sängerin werden will.", erzähle ich mit rauer Stimme und muss aufpassen, dass sie nicht auch bricht. "Dad war damit nicht einverstanden. Er wollte es nicht. Er... er hat uns ins Musikzimmer bestellt. Dann hat er plötzlich begonnen auf sie einzuprügeln und dann hat er ihren Kopf ganz oft gegen die Wand geknallt. Er hat die ganze Zeit gebrüllt, dass sie eine vernünftige Arbeit machen soll und, dass sie sich in der Schule gefälligst mehr bemühen soll. Ich... ich wollte ihn aufhalten, aber ich konnte es nicht. Und sie konnte sich doch auch nicht wehren, Mom. Sie... sie war doch erst zehn. Sie war viel zu jung zum Sterben. Ich konnte sie nicht beschützen. Ich war ihr keine gute Schwester. Sie ist nicht die Treppen runtergefallen. Dad hat sie ermordet und ich konnte es nicht verhindern. Es... es tut mir leid.", würge ich die Wahrheit hervor und alles stürzt auf mich ein.

Die Erinnerungen. Das Schreien. Das Blut. Die Stille.

Ich nehme wahr, wie meine Mutter auf die Knie fällt und beginnt zu schluchzen, doch ich laufe einfach los. Ich renne in mein Zimmer und verschließe mit einem Knall die Türe.

Ich presse mir die Hände auf die Ohren und beginne, zu schreien. Ich halte das nicht aus. Ich rutsche zitternd an der Türe runter und etwas Heißes fließt meine Wange runter.

Ja. Ich bin komplett hysterisch.

Maria, Maria, Maria...

Es tut mir so leid, kleine Schwester. Ich hätte dich beschützen müssen. Ich hätte sterben sollen. Ich. Nicht du.

Ich stehe zitternd auf. Ich gehe zu meiner Box mit den Klingen.

Schmerz, Schmerz, Schmerz.

Ich ziehe mit zitternden Fingern eine Rasierklinge aus dem Versteck und reiße mir die Jeans runter. Ich wollte es eigentlich nie wieder tun. Aber ich halte das nicht aus.

Und dann drücke ich. Ich drücke fest und ziehe. Drücken und ziehen, drücken und ziehen.

Als ich wieder halbwegs zu mir komme, lasse ich entsetzt und bibbernd die Klinge aus meinen Fingern rutschen. Ich senke den Blick auf meine Oberschenkel und ziehe scharf die Luft ein.

Ich bin komplett aufgeschlitzt. Überall. Rechts und links.

Ich schaue auf meine Finger. Blutig. Überall ist Blut.

Und es rinnt und rinnt und rinnt aus meinen Oberschenkeln. Mir wird kalt. Ich lasse mich auf den Boden sinken.

Scheiße.

Es tut mir leid Lucas, Maria...

Ich greife mit zitternden Fingern zum Handy und wähle eine Nummer.

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Hallo '-'

Wie gehts euch? (Ehrlich antworten!!!) !_!

Wen würdet ihr in so einem Fall anrufen? ._.

Was glaubt ihr, wen Amelie anruft? ^^
Bye bye... (%^-^%)

Rette mich, wenn du kannstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt