6. Die Erinnerung

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Ich lag in meinem alten Kinderzimmer und schlief friedlich. Zu dem Zeitpunkt war ich sechzehn, das Alter in dem das alles begonnen hat. Ich war nicht in meinem Körper, nein ich stand in der Ecke meines Zimmers und konnte meinen schlafenden Körper beobachten. Was tat ich hier? Träumte ich etwa? Ich wollte gerade aufstehen und mein jüngeres Ich genauer anschauen, als ich ein Dumpfes Geräusch wahrnahm. Mein jüngeres Ich bemerkte nichts davon, doch ich zuckte zusammen. Eine Gänsehaut breitete sich auf meiner Haut aus und irgendetwas sagte mir, dass dieses Klopfen nichts Gutes bedeutete. Wieder hatte ich dieses furchtbare Gefühl gleich kotzen zu müssen und ich wusste sofort, was als nächstes passieren würde. Gebannt starrte ich auf das Fenster und erblickte einen in schwarz gekleideten Mann, der in mein Zimmer starrte.

Als ich ihn sah spannte sich jeder einzelne Muskel in mir an. Er war es, derjenige der mein Leben zur Hölle gemacht hatte. Ich wollte aufstehen und zu dem Fenster laufen. Ich wollte wissen wer er war. Doch als ich dies versuchte, hielt mich irgendetwas auf und ich konnte mich nicht mehr bewegen. Ich wollte schreien, doch natürlich funktionierte das nicht. Ich musste dem Mann, der am Fenster stand und mein schlafendes Ich beobachtete, einfach zuschauen, ohne dass ich etwas tuen konnte. Scheiße Scheiße Scheiße!! Der Mann mit dem schwarzen Kapuzenpulli und einem schwarzen Halstuch, welches sein halbes Gesicht bedeckte, bewegte sich kaum. Doch plötzlich zog er ein mir unbekanntes Werkzeug aus seiner Jogginghosentasche hervor und öffnete damit geschickt mein Fenster von außen. Ich wusste nicht einmal, dass das möglich war. Er kletterte kaum hörbar auf mein Fensterbrett und hüpfte genau so leise auf den Zimmerboden. Der nicht zu erkennbare Mann schlenderte auf mein Bett zu und hockte sich vor mein sechszehnjähriges Ich. Ich stockte nur noch und war wie gelähmt. Der Mann stand wieder auf und ging zu meiner Schminklade. Es war wie ein fehlendes Puzzleteil und nun hatte ich endlich verstanden. Vor ungefähr zwei Monaten fand dieses Ereignis statt und seit dem hatte ich Selbstmordgedanken. Der große Mann fand einen feuerroten Lippenstift in meiner Schminklade und schlenderte wieder zum Fenster. Was als nächstes passieren würde, wusste ich jetzt schon. Bevor er sich ans Werk machte, drehte er sich noch einmal in die Richtung in der ich sitze. Er sah mich gerade genau an. Ich erstarrte und tritt um mich.  „Nein! Nein! Bitte nicht!" dachte ich mir und plötzlich war ich nicht mehr in meinem Kinderzimmer. Ich saß schweißgetrieft in meinem Krankenbett und hielt eine Hand in meiner linken Hand. Ich schaute verwirrt um mich herum und atmete schwer. Ich realisierte, dass ich in dem kleinem Spitalszimmer war und dies alles nur ein Traum gewesen war. Doch es war ein realer Traum. Es war die Realität, dass fühlte ich. Denn die Situation war genauso passiert. Es war ein warmer Sommermorgen, als ich damals aufwachte und die Schrift am Fenster erblickte. Ich erkannte, dass dies mein feuerroter Lippenstift sein musste, der wegen der Sonne ein bisschen schmolz. Ich zitterten leicht, als ich aus dem Bett stieg und zögerlich zu meinem beschmierten Fenster ging. „Ich kann dich sehen. Jeden Tag, jede Stunde, jede Sekunde." 

Ein gewaltiger Schauer überkam mich und ich musste mich an der Fensterlehne anhalten, um nicht umzufallen. Sofort verfiel ich in eine Art Trance und mir wurde furchtbar schwindelig. Ich kann mich erinnern, dass ich mich damals zu  meinem Bett bewegte und in Ohnmacht fiel. An diesem Tag erwachte ich erst wieder, als meine Mutter in mein Zimmer kam und ich einen schrillenden Schrei hören konnte. Sie setzte sich sofort neben mich, hielt mich in den Armen und heulte fürchterlich. Sie musste gedacht haben, dass ich tot bin. Seit dem war die Atmosphäre bei mir zu Hause immer angespannt gewesen. Meine Mutter begann mitten in der Nacht zu weinen und drängte mich zu der Polizei zu gehen. Mein Vater besuchte mein Zimmer inzwischen öfter, als sein eigenes, nur um zu sehen, ob es mir gut geht. Ich war ihnen immer sehr dankbar dafür gewesen, bis sie es übertrieben haben. Sie standen ein paar Schritte von mir entfernt, als ich den Lippenstift entfernte. Ich hatte ein Abschminktuch in meinen Händen und „löschte" die Beweise. Davor hatte ich natürlich ein Foto davon gemacht, um es später der Polizei zu zeigen. Ich wischte mit dem Tuch über das I von Ich und zog es bis zu dem Fensterende. Es hinterließ eine verwischte Spur, die ich nur anstarren konnte. Egal wie oft ich darüberwischte. Zögerlich hob ich meine bleiche Hand und fasste die hinterlassene Spur an. Wie auf Kommando strömten mir Tränen über meine Wangen. Sie liefen mir heiß über mein Gesicht und als ich ein starkes Händepaar auf meinen Schultern fühlte und sich eine zärtliche Hand auf meinem Oberarm wiederfand, brach ich endgültig auf der Fensterbank zusammen. Sie trösteten mich und der Rest des Tages verging sehr langsam und ich lag eigentlich nur in meinem Bett und weinte von Zeit zu Zeit. Warum passierte so etwas eigentlich mir? Ich hatte in der Schule keine Feinde, soweit ich wusste und war eigentlich recht beliebt in der Klasse. Wer tut mir so etwas an und wieso? Wieso?!

Zusammengesackt saß ich im Krankenzimmer und wurde von Matthias getröstet. Ich musste an die Zeit denken, als mich meine Eltern noch verstanden haben, als ich noch nicht vollkommen die Kontrolle verloren hatte. Es ist die Realität. Mein Stalker hat mir mein Leben zerstört.

Schrei, niemand wird dich hören Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt