Ich hatte mir das Essen anders vorgestellt. Aber anscheinend musste ich mich daran gewöhnen, dass hier alles so fremd wirkte. Obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte, wie und was ich getan hatte, bevor ich auf diesem Turm aufgewacht war, kam mir hier alles anders vor. Ich würde Elionore später danach fragen.
Ich stand verloren vor dem grossen Tisch. Nero setzte sich neben Juls, der wiederum neben einer jungen Frau sass. Ich kannte sie nicht, aber ich schätze sie nicht viel älter als mich, auch wenn ich mein Alter nicht wusste. An den Tischenden sassen Elionore und Alberto. Auf der gegenüber liegenden, noch freien Seite, setzte sich eine Frau, gleich neben Elionore. Damit waren noch zwei Plätze frei. "Wo ist Tay?", fragte die Frau neben Juls. "Sie ruht.", war die Antwort von Elionore. Alberto blickte mich an und klopfte mit der Hand neben sich auf den Tisch. "Komm, setzt dich hierhin, Lavenya." Wahrscheinlich war der Stuhl in der Mitte für diese Tay reserviert.
Während ich mich setzte, bemerkte ich, wie die anderen fragende Blicke austauschten. Nero erhob sich mit einem entschuldigenden Lächeln und verschwand durch die Küche. Ich konnte seine schweren Schritte die Treppe hinauf stapfen hören. Elionore erhob sich und ging ebenfalls in die Küche, kam jedoch einen kurzen Moment später wieder.
Sie hielt eine Tonschale in der Hand, aus der ein göttlicher Duft stieg. "Ellie macht den besten Auflauf den es gibt.", sagte die Frau zu mir, die auf der selben Seite sass wie ich. Mir fiel nichts besseres ein als schüchtern zu lächeln. "Das ist übrigens Anouk, falls sie dir ihren Namen noch nicht verraten hat.", sagte Juls. "Meinen kennt sie auch noch nicht!", stellte seine Tischnachbarin entsetzt fest. "Das ist Aurora.", stellte Juls auch sie vor. Aurora warf Juls eine Kusshand zu, worauf er sie verschmitzt angrinste. "Am Tisch wird nicht geflirtet, ihr zwei.", mahnte Elionore, aber ich konnte sehen, dass sie sie nur ein bisschen necken wollte. Juls und Aurora starrten mit roten Köpfen auf ihre Teller, als ob es ihnen peinlich sei. Dabei hatten sie das eben so offensichtlich gemacht.
In dem Moment kam Nero die Treppe hinuntergepoltert und schmiss sich lässig auf seinen Stuhl. Alberto sah ihn fragend an aber er schüttelte nur den Kopf.
Elionore seufzte und begann, das essen zu verteilen. Auf meinen Teller schaufelte sie die doppelte Menge wie bei den anderen. Ich wollte schon protestieren aber Anouk kam mir zuvor. "Hey Ellie, wir haben auch Hunger." Anouk zwinkerte mir verschwörerisch zu und grinste. "Du hast heute morgen gegessen, Lavenya hat noch nie etwas gehabt, kleiner Vielfrass.", wiedersprach ihr Elionore. "Nanouk isst hier am absolt meisten. Ihr Name bedeutet nicht umsonst Bär.", wisperte Nero mir zu. "Nanouk oder Anouk?", fragte ich verwirrt. "Nanouk ist mein richtiger Name, allerdings bei den Inuit, bei denen ich gelebt habe, ein Jungenname. Darum abgekürzt Anouk. Die Bedeutung stimmt.", klärte sie mich gleich selber auf. Der Duft des Essens liess meinen Magen knurren und das Wasser lief mir im Mund zusammen. "Esst, meine Lieben. Lasst es euch schmecken.", sagte Elionore. Sofort begannen die anderen zu essen. Neugierig betrachtete ich das so lecker duftende Zeug im Teller. Es sah aus wie Kartoffeln, die mit einer bronzefarbigen, durchschimmernden Sauce übergossen wurden, die anscheinend klebrig war, so wie sie bei Alberto Fäden zog, sobald er diese komische Kartoffel aus dem Teller zog. Ich nahm die Gabel und probierte. Die Kartoffel schmeckte nicht schlecht und war knusprig, die Sauce war süss und, wie gesagt, klebrig. Es war richtig lecker und ich schaufelte sofort noch zwei weitere Stücke in den Mund.
"Du hast einen neuen Fan, El.", meinte Nero lachend. Erfreut klatschte sie in die Hände. "Magst du es?", fragte sie. Ich nickte. "Sehr gut." Ihr Lächeln wurde noch breiter. "Nicht zu viele Komplimente, sonst steigt ihr das in den Kopf." Elionore warf Alberto einen vernichtenden Blick zu, doch dieser zwinkere ihr nur zu. "Das mit dem Flirten gilt auch für euch.", meinte Juls. Alberto verdrehte die Augen und ass weiter.
Als wir fertig waren, räumten Anouk und Nero gemeinsam den Tisch ab und erledigten die Küchenarbeit. Aurora setzte sich wieder in den Wintergarten und Juls verschwand irgendwo im Haus. "Lavenya?" Ich drehte mich zu Alberto um. "Bist du bereit zu erfahren, was du bist?" War ich das? Ich zuckte die Schultern. "Wir können es langsam angehen, du gibst das Tempo vor, in Ordnung?" Ich nickte.
Er ging voraus durch die Küche in die grosse Eingangshalle. Dort war die Treppe, die ich hinuntergekommen war. Hier war allerdings noch ein Raum. Alberto stieg eine kleine Treppe hinunter und winkte mich zu sich. Ich nahm an, wir befanden uns jetzt auf der Strassenhöhe. Alberto schaltete das Licht ein und ich erkannte einen Tisch mit vier Stühlen und eine weitere Treppe, die in ein dunkles Loch hinabführte. "Was ist da unten?", fragte ich neugierig. Alberto lächelte und bedeutete mir, ihm zu folgen. Wir stiegen die knarrende Treppe hinab und wiederum kipste er das Licht an.
Wir befanden uns in einem kellerartigen Raum, dessen Wände gemauert waren. Es standen alte Stühle und Tische herum, sogar ein alter Fernseher und Lanpen konnte ich entdecken. Alberto ging zu dem schmalen Bücherregal und zog ein dickes Buch heraus. Er setzte sich auf einen der Stühle und legte das Buch, auf dem Die Lunaris-Chronik stand, auf den kleinen Tisch vor ihm. Ich setzte mich neben ihn und sah ihn erwartungsvoll an.
"Hast du mitbekommen, was Lunaris bedeutet?", fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf. "Gut, dann erkläre ich es dir." Ich kam mir gerade vor wie in Grossvaters Märchenstube, es fehlte nur noch ein Feuerchen und der Schaukelstuhl, den Bart hatte er ja schon. "Lunaris ist der Name unserer Familie. Er kommt aus dem Latein und bedeutet Mondbahn. Der Mond kreist um die Erde, genau wie wir, die Sternenkinder." Eine galaktische Sache, musste man denen lassen. "Die Sternenkinder gehören zum Nóre en cala, dem Volk des Lichtes. Sie tragen Hoffnung und Neuanfang in sich, genauso wie die Macht über die vier Elemente." Wow... Volk des Lichtes, Hoffnungsträger und elementmächtige Leute. "Die 'Gründerin' dieses Volkes ist Erdmutter Gaia, von uns kurz Gäa genannt. Sie gibt Menschen, die sie für würdig hält, eine zweite Chance."
Bevor er weitersprechen konnte, unterbrach ich Alberto. "Wie eine zweite Chance?"
"Menschen, die es verdient haben zu beweisen, dass mehr in ihnen steckt, als dass sie zeigen. Das können Verbrecher sein, Mörder sogar, die aus einem bestimmten Grund zu dem geworden sind. Aber wie ich sehe, hast du übgerhaupt keine Erinnerungen mehr an dein früheres Leben." Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Alberto griff in seine Jackentasche und holte ein gefaltetes Blatt hervor. Er sah mich prüfend an und breitete es schliesslich vor mir auf dem Tisch aus.
Was ich sah, liess mich erstarren und konnte den Buchstaben auf diesem Blatt nicht glauben.
Mörderpaar aus Hochsicherheitsgefängis entwischt!
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Gäa's Vermächtnis
FantasyWas würdest du machen, wenn du auf einem Turm erwachst und keine Ahnung hast, wo du bist? Was, wenn du plötzlich das Gefühl hast, verfolgt zu werden? Und was, wenn auf einmal um dich herum Menschen sterben und verletzt werden und nur du dem eigentli...