Lavenya P.O.V.
Nach einer Weile war Delvin gegangen. Ich spührte, dass ihn etwas bedrückte. Warum zum Teufel erinnerte er sich an jedes Detail während mir alles versperrt blieb? Ich konnte mich vage an die Gesichter meiner 'Familie' erinnnern. Jocelyn hatte mich jede Sekunde meines Lebens ignoriert, Mario und Corina hatten mich geärgert wo es nur ging. Und mein Vater? Dad versuchte, mir ein normales Leben zu ermöglichen. Er war bis zu seinem Tod ein Vorbild für mich gewesen.
Ich hatte keine Freunde, weil meine Geschwister alle anderen Kinder verängstigt hatten. Als sie gestorben waren, hatte ich mich aufrichtig gefreut, nur Dad's Tod hatte mich mitgenommen. Und dann trat Delvin in mein Leben und durchbrach meine emotionale Mauer, die ich über die Jahre hinweg errichtet hatte. Wir sprachen über seine Pflegeeltern und unsere Betreuerinnen. Wir verstanden die Menschen nicht und setzten uns zum Ziel, die 10 übelsten aus der Welt zu schaffen. Das klappte gut, bis wir bei unserem 11. Opfer erwischt wurden.
Schmunzelnd dachte ich an unsere Verhaftung. Ich hatte auf dem Balken im Wohnzimmer gesessen, Delvin sass auf dem Sofa und die Frau - ich konnte mich nicht an ihre Schandtaten erinnern - lag auf dem Bauch mitten im Raum, die Arme mit Handschellen am Tisch angemacht, die Füsse an einem der schweren Stühle. Wir hatten uns ohne wenn und aber verhaften lassen. Diese idiotischen Polizisten steckten uns in Zellen, die gleich nebeneinander lagen. Und wir hatten schon lange im Voraus unsere Flucht geplant. Kurz nach unserem Prozess war dann alles vorbereitet und wir verschwanden auf nimmer Wiedersehen.
Es fühlte sich irgendwie falsch an, an meine eigenen Erinnerungen zu denken. Obwohl sie nur in einzelnen Bruchstücken auftauchten, kam ich mir trotzdem vor, als würde ich im Leben einer anderen Person herumschnüffeln. Ich konnte mir ehrlich gesagt gar nicht vorstellen, dass ich einen solchen Hass auf die Menschen gefühlt hatte.
Das Foto, die Familienbiografie und meine Geburtsurkunde stopfte ich in die unterste Schublade des Schreibtisches. Ich durchsuchte den Stapel Papier nach weiteren Infos zu mir. Mir kamen die Adoptionspapiere in die Finger, die allerdings nicht mehr hergaben, als ich schon wusste. Mein Erbschreiben enthielt auch nicht viel. Von Jocelyn kriegte ich gar nichts (sie hatte es fett unterstrichen in ihrem Testament markiert) und Dad's kleines Vermögen ging für das Heim drauf. Das Haus wurde versteigert und der Erlös ging an die Unterhaltung des Parks, in dem sie geheiratet hatten. Super!
Auch diese beiden Papiere wanderten ohne Umweg in die Schublade. Es folgten irgendwelche Budgetplanungen und eine Beige Fotos, die ich mir nicht ansehen wollte.
Zum Schluss lag noch der Prozessbericht und ein Umschlag vor mir. Den Bericht brauchte ich mir nicht anzuschauen, aber der Umschlag interessierte mich.
Ich öffnete ihn und hielt etwa 20 Postkarten in den Händen. Allesamt von Orten überall auf dieser Welt. Auf jede hatte ich einen Kommentar geschrieben wie 'Hier möchte ich Surfen lernen' 'Auf Safari gehen' 'Fallschirm springen'. Ich hatte also doch Träume gehabt und war nicht dieses gefühllose Monster, das nur auf die Angst der Leute aus gewesen war.
Ich hängte die Postkarten an die Wand, an der mein Bett stand. Schnell räumte ich den Prozessbericht weg und zog mir die Römersandalen an, die ich im unteren Teil des Schrankes fand. Das Einzige, was ich jetzt brauchte, war Ablenkung.
Den Ort kennenlernen würde niemandem Schaden. Sobald ich das Villenviertel verlassen hatte, kam ich in ein hübsches kleines Dorf. Alle Häuser hatten einen winzigen Vorgarten und die Kinder spielten auf einem grossen Platz, auf dem auch eine Kirche stand.
Den Platz umsäumten einige Cafés, in denen die Eltern der spielenden Kinder sassen und ihre Sprösslinge stolz beobachteten. Ich setzte mich auf eine Sitzbank im hintersten Ecken des Parkes und schaute in die Bäume hinauf. Ein Vogelpärchen baute sich gerade ein Nest, ein Eichhörnchen hüpfte vorbei und eine Katze schlich zu mir. Die stupste mich mit ihrer feuchten Nase an und ich kraulte sie hinter den Ohren. Sie schnurrte und liess es sich gefallen. "Mama, da drüben sitzt das Mädchen aus dem Fernseher!", hörte ich auf einmal ein Kind rufen. Ich versuchte zu erkennen, welches von den vielen es war und entdeckte es bereits bei seiner Mutter, den Armen ausgestreckt und mit dem Finger auf mich zeigend. Schnell stand ich auf und drehte mich weg. Die Frau sagte etwas zu ihrem Kind, mehr hörte ich nicht mehr.
Ich betrat die Kirche. Sie war schlicht und klein. Vorne auf dem Altar stand eine grosse Kerze. Zwischen den Bankreihen sass ein Mann, der eine dunkle Brille aufhatte und einen Blindenstock in der Hand hielt. Er würde mich nicht erkennen.
"Darf ich mich zu Ihnen setzten?", fragte ich ihn. Er lächelte und nickte, sah aber nicht zu mir auf. "Kann ich helfen, junge Dame?" Er erinnerte mich an die grossväterliche Figur, die in meinem Leben immer gefehlt hatte. "Wenn ich Ihnen sagen würde, dass ich einmal etwas sehr Schlimmes getan habe, würden Sie mir dann glauben?", wollte ich von ihm wissen. Er überlegte eine Weile. "Ja, das würde ich Ihnen glauben. Aber ich mache Ihnen keine Vorwürfe, Sie sind in einer Kirche, hier vor unserem Herr sind alle Gleich.", erklärte er mir. "Erklären Sie das einmal einem Richter." "So schlimm?", fragte er. "Schlimmer.", flüsterte ich. Wieder schwieg er. "Dann bitte den Herrn um Verzeihung. Er wird Ihnen helfen." Wenigstens band er mir nicht auf die Nase, dass ich eine Zehnfachmörderin war. Draussen hörte ich die Stimmen von zwei Männern, die mit der Frau diskutierten, deren Kind mich vorher gesehen hatte. "Ich wünschte, Sie hätten Recht. Vielen Dank.", murmelte ich und schlich mich zum Hinterausgang. Gerade als ich die Türe öffnete, wurde das grössere Eingangstor aufgerissen. Vier Polizisten standen mit gezogenen Waffen da und entdeckten mich, bevor ich verschwinden konnte. "Stehen bleiben!", brüllte einer der Vier.
Ich rannte los so schnell ich konnte. "Hey!", brüllte der eine. Anscheinend verfolgten sie mich. Verdammt verdammt verdammt!!! Zurück konnte ich nicht, dann wäre ich in einem Haus gefangen und hätte gleich noch Delvin verraten.
So schnell ich konnte rannte ich durch den Park an den Kindern vorbei, die erstaunt zu mir aufsahen, und bog in eine kleine Seitenstrasse ab. Diese führte wiederum auf eine Hauptstrasse. Ich hörte die Polizisten hinter mir und die Sirenen, die immer lauter wurden. Die Strasse führte in einen Wald, der sich nach ein paar hundert Metern wieder lichtete. Ich stand am Eingang eines Campingplatzes und hier gab es eine Menge kleiner Wege. Ich schlüpfte gerade noch rechtzeitig zwischen zwei Büschen hindurch, denn die Polizei war bereits da. Zwischen den Wohnwagen und Menschen fiel ich hoffentlich nicht auf. Trotzdem versuchte ich so schnell wie möglich zum anderen Ende des Platzes zu gelangen. Doch als ich dort ankam musste ich mit Schrecken feststellen, dass dort ebenfalls Einheiten der Kriminalpolizei standen. Hier würde ich nicht mehr lebend hinauskommen.
Ich sah mich eilig nach einem Versteck um und entdeckte eine offene Wohnwagentür. Schnell schlich ich mich hin und schaute nach, ob jemand drinnen war. Es war niemand da und so schlüpfte ich unentdeckt hinein. Schnell sah ich mich um: Vor mir stand der Tisch, rechts davon war das Fahrerhäuschen und gleich darüber das Doppelbett. Links von mir befand sich die Küche und das Minibadezimmer. Ganz zuhinterst befand sich ein Stockbett. Das untere war hochgeklappt, wahrscheinlich befand sich die 'Garage' darunter. Ich kroch in das Obere, denn es war nicht bezogen und der Vorhang war ebenfalls gezogen. Ich legte mich hin und wartete ab.
Die Polizisten sprachen mit den Leuten, die draussen auf dem Platz standen. Nach einer Weile stiegen zwei ältere Leute ein und zogen die Türen zu. Dann setzten sie sich hin, schnallten sich an und starteten das Fahrzeug. Wieso hatte ich immer Pech? Wohin würden sie bloss fahren? Ich nahm mir vor, gleich beim ersten Halt auszusteigen und zurück zu laufen. Ich lugte aus den Fensterchen und beobachtete, wie der Campingplatz und das Dorf hinter uns verschwand und das Auto Richtung Den Haag fuhr.
Ich versuchte, mich so ruhig wie möglich zu verhalten, was auch gar nicht so schwierig war, denn mein Schicksal meinte es gut mit mir und liess mich einschlafen. Erst am frühen Abend erwachte ich wieder.
Oh verflucht, wo war ich denn jetzt? Ich schaute aus dem Fenster und erstarrte. Wir befanden uns auf einer Brücke, die alle paar hundert Meter mit irgendwas angeschrieben war, was ich nicht verstand. Das Wasser reichte bis zum Horizont, und das auf beiden Seiten! Die Leute vorne stritten sich lauthals, aber ich verstand kein Wort. Erst als wir nach gefühlten Stunden endlich von der Brücke fuhren, entdeckte ich eine Tafel die ich verstand.
'Herzlich willkommen in Schweden'
Ich hätte mich am liebsten in Stücke gerissen. Und diese Beiden hatten nichts anderes vor als noch weitere vier Stunden nach Vänersborg zu fahren.
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Gäa's Vermächtnis
FantasyWas würdest du machen, wenn du auf einem Turm erwachst und keine Ahnung hast, wo du bist? Was, wenn du plötzlich das Gefühl hast, verfolgt zu werden? Und was, wenn auf einmal um dich herum Menschen sterben und verletzt werden und nur du dem eigentli...