Estel - Vertrauen

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Ich sass auf dem Bett und betrachtete den Zeitungsausschnitt. Meine eigenen Augen starrten mich emotionslos an und mein Gesicht sah farblos und eingefallen aus. Ich hielt eine Tafel in der Hand, auf der Lavenya stand. Gleich neben meinem Foto war das von diesem jungen Mann, der mit mir auf dem Turm gewesen war. Auf seiner Tafel stand Delvin. Den Namen hatte doch Elionore erwähnt? Wo war er?
Ich hatte mich noch nicht getraut, den Artikel zu lesen. Ehrlich gesagt, wollte ich gar nicht wissen, wen ich angeblich umgebracht hatte, aber wenn diese Gaia mir, beziehungsweise uns, eine zweite Chance gab, dann muss ich das wirklich gewesen sein. Warum konnte ich mich dann nicht mehr erinnern? Um jemand anderes zu sein sollte man doch wissen, wer man gewesen war! Hatte ich eine Familie? Wo war ich zuhause?
Von dem obersten Textabschnitt hatte ich erfahren, dass ich 19 Jahre alt war. Und ich habe Menschen umgebracht? Mit 19 Jahren? Ich musste eine Psychopatin gewesen sein.
Auf einmal klopfe es an die Türe. "Ja?", rief ich. Die Türe öffnete sich und Anouk kam hinein. "Kann ich dir helfen?", fragte sie. Fragend sah ich sie an. "Ich kann Informationen über dich auftreiben. Wenn dich das beruhigt." "Weisst du, was du getan hast?", fragte ich sie. Anouk kam zu mir und setzte sich auf die Bettkante.
"Ich habe einige Banken ausgeraubt und danach das Geld in Bauprojekte gesteckt. Mit diesen Bauwerken habe ich einige Tierarten ausgerottet und einiges an Landschaft zerstört. Absichtlich. Aber nur, weil mein Vater mich dazu gemacht hat. Tief in meinem innersten hat es mich kaputt gemacht aber ich habe es durchgezogen, um meinen Vater zu beeindrucken. Und dann hat Gaia mich zu sich geholt." Schweigend starrte ich auf die Zeitung. "Hast du dich erinnert?" "Zuerst nicht, aber ich wollte wissen, wer ich gewesen bin. Ich habe mir alles angesehen, was ich geschaffen hatte und ich war nicht zufrieden. Ich habe nicht verstanden, wieso ich das alles getan hatte. Mithilfe meiner Kräfte habe ich alles in Schutt und Asche gelegt und die Natur wieder walten lassen. Und heute bin ich Spitzenspionin. Toll oder?"
Mir klappte der Mund auf. "Spionin?" Sie nickte. "Einfach so Hobbymässig oder..?" "CIA Aussendienst. Ich bin in Europa einsatzbereit." "Wow... Und du bist nicht gerade auf eine ausgerissene Mörderin angesetzt?" Anouk grinste. "Doch. Und ich habe sie bereits gefunden. Aber hier drehe ich ausnahmsweise den Spiess um und decke dieses arme Geschöpf, das keine Ahnung hat, warum sie verfolgt wird. Wie gesagt, ich kann dir helfen, das herauszufinden."
Ich seufzte. "Gerne. Aber ich habe Angst, dass mich das nachher auffrisst, wenn ich weiss, wen ich warum getötet habe. Ich bin gerade voll im Selbstekelmodus." Anouk lachte. "Das geht jedem so. Delvin übrigens auch." Sie nickte zu dem Bild. "Wo ist er?" "In seinem Zimmer. Er verflucht sich selber. Aber mehr sage ich nicht."
Grinsend stand sie auf und ging zur Türe. Bevor sie mein Zimmer verliess, drehte sie sich noch einmal um. "Ich mache mich auf die Suche." Dann war sie weg.
Delvin war hier. In diesem Haus und zeigte sich nicht. Ob es ihm wohl so wie mir ging? Wenn ich doch nur wüsste, wo in diesem Haus sich sein Zimmer befand. Ich entschied mich, auf Hausentdeckungstour zu gehen.
Neben meinem Zimmer war das das von Anouk. Dazwischen befand sich ein schmaler Gang in, ich nenne es jetzt mal so, Studierzimmer. Hier stand ein Globus, ein Teleskop und die Statue von einem dieser griechischen Götter, der eine schwere Kugel hielt. Ach ja, die Last des Atlas.
Ich hatte hier zwei Türen zur Verfügung. Hinter der ersten entdeckte ich das Badezimmer, auf jeden Fall auch gut zu wissen. Die andere führte in das Schlafzimmer von Nero. Der trainierte gerade auf seinem Laufgerät. "Was gibts?", fragte er, nachdem er mit einem Luftstoss die Türe geöffnet hatte.
Um ihm nicht sagen zu müssen, dass ich von ihm nichts wollte, erkundigte ich mich nach seinen beruflichen Tätigkeiten. "Trainer aller Sportarten. Manchmal Präsident oder Besitzer eines Sportvereines." Er zeigte an die Wand, an der massenhaft Urkunden und Bilder hingen oder auf Regalen sich die Pokale nur so stapelten. "Du suchst Delvin oder?" Ertappt kniff ich die Lippen zusammen und nickte. "Der ist ein Stock weiter unten."
"Danke." Nero nickte grinsend und sich den Kopfhörer wieder ins Ohr. Ich schloss die Türe hinter mir wieder zu, ging durch den Raum zurück, durch den schmalen Gang dorthin, wo ich vor dem Essen zur Bibliothek gelangte. Diesmal nahm ich die Treppe, die vor der Bibliothek einen Stock hinunter führte und siehe da, ich landete in einem weiteren Gang. Der war allerdings so gut wie leer.  Ohne Zeit zu verlieren ging ich durch den Türbogen in das Wohnzimmer, an das ja auch die Bibliothek grenzte. Mann, das war ja ein einziger Irrgarten hier. Ich verliess das Wohnzimmer und kam wieder zu der Treppe, die ganz nach unten führte. Hier gab es aber auch noch drei Zimmertüren. Wem gehörte jetzt welche?
In dem Moment ging die gleich neben mir auf und Aurora kam hinaus. Sie schien etwas überrascht, mich hier anzutreffen. "Kann ich dir helfen?", fragte sie. "Nein, warte. Du willst zu Delvin?" Sprachlos sah ich sie an. "Warum wisst ihr das?" Sie lächelte. "Nun ja, keine Ahnung was du bei den anderen möchtest, war gerade das naheliegendste. Das Zimmer gleich neben meinem gehört Juls. Das gegenüber Delvin." Wiederum bedankte ich mich und Aurora stieg die Treppe hinunter.
Nun stand ich vor der Türe von Delvins Zimmer. Und jetzt? Wie würde er reagieren, wenn er mich sieht? Ich hob die Hand und klopfte zaghaft. Kein Ton von drinnen. Ich wartete, trat vom einen Fuss auf den anderen, wurde langsam aber sicher ungeduldig. Ich klopfte noch einmal, aber wieder regte sich nichts.
Seufzend ging ich zurück. Auf dem Weg machte ich noch einen Abstecher durch die Bibliothek und suchte mir ein Buch hinaus. Wer machte sich bloss diese Mühe, all den Büchern eine Signatur zu geben? Wahrscheinlich Alberto. In der Abteilung für Belletristik entdeckte ich 'Zum Teufelchen mit dir' von Patricia Eimer.
Ich ging in mein Zimmer und setzte mich aufs Bett. Gerade als ich das Licht einschalten wollte, bewegte sich etwas draussen. Neugierig liess ich das Buch auf die Bettdecke fallen und ging zum Fenster. Es dunkelte draussen schon ein, aber ich konnte klar und deutlich jemanden draussen erkennen. Die männliche Person war weder Alberto, Juls oder Nero. Aber ich kannte ihn. Auch wenn ich ihn von hinten sah, wusste ich sofort, dass es Delvin war. Seine dunkelbraunen Haare wurden von dem Wind zerzaust und er trug eine dunkelblaue Jeans und ein kariertes Hemd. Wo wollte er um diese Zeit hin?
Delvin spazierte zu den Dünen. Das Meer war sehr unruhig, ich konnte die Wellen bis in mein Zimmer hören. Ich beobachtete ihn eine Weile, bis ich mir sicher war, er würde sich in den nächsten paar Minuten nicht bewegen. Schnell flitzte ich aus dem Zimmer, die Treppe hinab, durch das Wohnzimmer und noch eine Treppe hinab. Dort rannte ich beinahe Juls über den Haufen, der mir aber nur lachend hinterhersah. Anscheinend wusste er genau, wo ich hinwollte. Neben der Küche und dem Esszimmer war der Gang zum Wintergarten. Dort hopste ich die kleine Treppe hinab und öffnete die Glastüre. Ein Windstoss begrüsste mich draussen und schnell machte ich die Türe hinter mir zu.
Je näher ich den Dünen kam, desto mehr wurde mir bewusst, dass dies kein natürlicher Wind war. Als ich schliesslich Delvin erblickte, wurde mir klar, dass sich mein Unterbewusstsein nicht getäuscht hatte. Um ihn herum wirbelte ein Sturm, der so undurchdringlich schien wie eine Wand. Er sass im Sand, die Stirn auf die Arme gestützt, die Beine an den Körper gezogen. Er sah richtig hilflos aus. Ich sah ihm zu und versuchte, ohne dass er es bemerkte, mich ebenfalls in den Sand zu setzten. Doch als ich mich bewegte, riss er den Kopf herum und noch schneller schoss der Wirbelsturm mit dem Sand, den er aufgewirbelt hatte, auf mich zu. Ich konnte nur noch sein verzweifeltes Gesicht sehen und dann wurde ich von der Wucht des Sturmes nach hinten geschleudert.

Gäa's VermächtnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt