Echui - Erwachen

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Meine Arme und Beine fühlten sich an wie Blei und zogen mich auf den Boden. Es kam jemand vorbei, schüttelte an mir, lachte, verpasste mir einen Fusstritt. Schmierte mir etwas ins Gesicht, verwuschelte meine Haare und ging wieder. Ich hatte mich nicht gewehrt, die Angst vor mir selber war zu gross. Ich hatte diese Leute am Strand umgebracht, da war ich mir sicher. Und beinahe hätte ich noch einen weiteren unschuldigen Mann getötet. Mir kam in den Sinn, dass mir jemand gefolgt war, als ich den Trum verlassen hatte. Vielleicht wollten die mir helfen? Und wer war überhaupt der andere da oben, der geschlafen hatte?
Während ich überlegte, hörte ich, wie jemand zu mir kam. Die Frau hatte etwas gesagt. Sie kauerte sich neben mich und sagte es nochmals. Lavenya. Das war mein Name. Ich spürte noch, wie mich jemand hochhob und davontrug. Das Gefühl, in Sicherheit zu sein, liess mich in einen tiefen Schlaf fallen.

"Vielleicht ist es gar nicht ihr Name." "Seid ihr euch sicher, dass sie nicht tot ist? Sie sieht so leblos aus." "Delvin macht sich wahnsinnige Sorgen um sie. Er weiss nicht warum, aber es könnte sein, dass sie sich gekannt hatten."
Die vielen unbekannten Stimmen tanzten durch meinen Kopf und versuchten, das Aufgeschnappte zu verarbeiten. Tot? Delvin? Der Name kam mir bekannt vor aber wer das war, wusste ich nicht. Ich blinzelte den Schlaf aus meinen Augen und entdeckte die drei Personen am Fussende des Bettes in dem ich lag. Sie sahen sich schweigend an, nur die Frau blickte mir direkt in die Augen. Ihre langen schwarzen Haare reichten ihr bis zum Bauch und ihre hellblauen Augen und die fast schneeweisse Haut liessen sie gefährlich wirken. Aber sie lächelte mich derart herzlich an, dass ich die aufkeimende Angst sofort wieder vergass. "Bist du Lavenya?", fragte sie. Ich überlegte kurz, nickte dann aber. "Na bitte, sagte ich doch, es ist ihr Name. Und tot ist sie auch nicht.", schimpfte sie die Männer aus. Sie kam zu mir und setzte sich auf die Bettkante. "Ich bin Elionore. Der Herr da drüben ist Alberto und der andere ist Juls." Ich musterte die beiden von oben bis unten. Alberto trug einen dunklen Anzug der ihn bleich wirken liess, aber wahrscheinlich war er einfach so. Er hatte hellbraune Haare und dunkelbraune Augen. Juls hatte kurze blonde Haare und dunkelblaue Augen, seine Haut war nicht ganz sp hell wie die der beiden anderen. "Hast du Hunger?", fragte Juls. "Nein, danke.", murmelte ich. "Du wirst aber etwas essen müssen." Ich schüttelte den Kopf "Ich habe den Geruch der Würstchen am Strand beinahe nicht ertragen...", ich brach mitten im Satz ab, als mir in den Sinn kam, was danach passiert war. In mir zog sich alles vor Selbstekel zusammen. "Du kannst nichts dafür, was passiert ist." Ich sah Alberto entsetzt an. "Ich habe Leute in die Luft gejagt und alle sind gestorben! Ich habe einem Mann das Handgelenk verbrannt! Wie soll ich denn da noch unschuldig sein?"
Elionore winkte die Männer nach draussen und blieb alleine bei mir zurück. "Ich würde nicht hier bleiben, ich könnte Sie verletzten.", warnte ich sie und klemmte meine Hände wieder unter meine Arme. Elionore sah mich nur mitleidig an. "Sieh mal.", sagte sie auf einmal und hob ihre Hände in die Luft. "Náre.", murmelte sie. Sofort schossen Flammen aus ihren Händen, tanzten um ihre Finger. Elionore formte wundervolle Gestalten aus dem Feuer. "Nén." Augenblicklich wandelte sich das Feuer in Wasser um und bewegte sich zu einem kleinen Tornado zwischen ihren Händen. "Vilya." Der Tornado wurde zu Luft. "Ambar." Zuletzt noch die Erde als feine Staubkörnchen. "Heco!", und alles löste sich auf. Staunend sah ich zu Elionore auf. "Deine Gabe ist nicht gefährlich, wenn du sie unter Kontrolle hast, meine Liebe. Und das wollen wir dir beibringen." "Warum solltet ihr mir helfen?", fragte ich sie zweifelnd. Elionore sah sie verständnisvoll an. "Alberto ist vielleicht für den Zuwachs unseres Volkes in Europa zuständig, ich möchte dich hier bei uns aufnehmen, in unsere Familie. Genauso wie Delvin."
Ich sah sie nachdenklich an. "Das hier ist dein Zimmer, aber du darfst natürlich überall in der Villa sein. Bei den Zimmern der anderen sollte man höflicherweise klopfen und für unser Familienarchiv hat nur Alberto einen Schlüssel, aber du darfst mit ihm zusammen hinein." Ich nickte langsam. "Wo sind wir denn hier überhaupt?", wollte ich wissen. "In den Niederlanden, auf der Halbinsel Middleburg in Oostkapelle. Das Meer grenzt an unser Grundstück, du kannst es von dem Fenster da sehen. Wir brauchen nur über die Düne zu laufen und schon sind wir im Wasser." Darauf freute ich mich! So nah am Meer zu wohnen musste wahnsinnig toll sein. "Wir essen um 7 Uhr Abends alle zusammen. Wenn du das Esszimmer nicht findest, ruf uns einfach ja?" Keine Wiederrede, bedeutete ihr Tonfall. Ich nickte und sie verliess das Zimmer. Mein Zimmer. Die hatten mich hier einfach einquartiert und in die Familie aufgenommen. Elionore schien das Mutterorgan zu sein. Fürsorglich, liebevoll, streng und verständnisvoll. Meinen Ansichten nach war Alberto der Vater, distanziert aber nur auf das Wohl der Familie aus. Juls konnte ich der Familienhierarchie nicht zuordnen. Und anscheinend gab es noch mehr Leute in diesem Haus.
Ich ging zum Fenster und zog die dunklen Vorhänge zur Seite. Ich blickte auf eine Düne und dahinter auf das Meer hinaus. Sofort riss ich die Fenster auf, damit ich das Rauschen hören konnte. Salzwasserduft stieg mir in die Nase und das beruhigende Geräusch der Wellen durchflutete mich.
Da ich ein pjiamaartige kurze Hosen und ein Top anhatte, plünderte ich den Kleiderschrank, den jemand in meiner Grösse bestückt hatte. Ich zog einen schwarzen, bodenlangen Rock und ein hellblaues Top mit dunkelroten Orchideenblüten an.
Ich fühlte mich wie ein Einbrecher als ich die Zimmertüre öffnete. Mein Zimmer grenzte an einen langen, hellen Gang. An den Fenstern hingen dunkle schwere Vorhänge, die aber auf der Seite angebunden waren und so die Sonnenstrahlen hinein liessen. Unter jedem Fenster stand ein kleiner Tisch mit einer Blume und einem Foto darauf. Ich ging an allen vorbei in die grosse Halle, die an den Gang grenzte. Staunend blieb ich stehen. Ich befand mich auf der Galerie einer riesigen Bibliothek. Hier reihten sich Bücherregale aneinander, vollgestopft mit Büchern aller Zeit. Die Regale auf der unteren Etage waren sicher vier Meter hoch, auf der oberen, auf der ich mich befand, waren sie ungefähr zwei Meter hoch. Ich stieg die Wendeltreppe hinab und drehte mich einmal um mich selber. An der Decke hing ein riesiger Kronleuchter aus Glas. Staunend stolperte ich rückwärts durch die offene Türe, die in den nächsten Raum führte.
Das sah aus wie ein hochmodernes Wohnzimmer. An der Wand hing ein grosser Fernseher, es waren mehrere Ledersessel und ein sehr bequem aussehendes Sofa da, eine Stereoanlage und ein Tischchen. Der Raum war sehr hell und an der einen Wand hingen grosse Fotos. Ich betrachtete das erste und entdeckte Alberto, Elionore und Juls unter den Personen. Die anderen kannte ich nicht. Unten im Rahmen stand eingraviert die Zahl 2000, wahrscheinlich das Jahr, in dem es gemacht wurde. Ich sah mir das nächste Foto an. Hier waren mehr Personen im Bild, die drei standen unverändert da. 1980! 20 Jahre Zeitunterdchied und sie sahen verdammt noch mal genau gleich alt aus! Ich ging noch ein Foto zurück, hier war die Gruppe wieder kleiner und Juls konnte ich nirgends entdecken. Datiert war es auf das Jahr 1965. Kopfschüttelnd drehte ich mich von den Fotos weg und öffnete die Türe, die aus dem Raum hinausführte. Nun stand ich an einer Treppe, die nach unten führte. Die Treppe endete vor einer mächtigen Türe. Sie wirkte undurchdringlich aber als ich die Türfalle nach unten drückte, sprang sie problemlos auf.
Ich huschte hinaus und befand mich nun in einem Vorgarten. Der Gärtner, der dieses Stück Land bewirtschaftet hatte, musste von der Meisterklasse sein. Die Büsche waren alle kugelrund und die verschiedenen Blumen reihten sich dem Fussweg entlang. Der Rasen war auf den millimeter genau geschnitten und kein Laubblatt verunreinigte die Fläche.
Ich ging dem Weg entlang zur Strasse und folgte dem Wegweiser durch das Villenquartier zum Strand. Die Häuser waren allesamt beeindruckend, aber das, in dem ich gewesen war, fand ich am imposantesten.
Der asphaltierte Weg verwandelte sich schnell in Sandwege. Ich musste mich eine Düne hinaufquälen aber von oben hatte ich eine wunderschöne Aussicht. Vor mir lag ein unendlich weites Meer, an dessen Horizont sich Schiffe kreuzten, ein paar Segelboote trieben ein bisschen näher am Land und die Leute am Strand waren dabei, ihre Sachen einzupacken. Ich setzte mich hin und genoss den sanften Wind, der mit meinen Haaren spielte. Während die Sonne immer näher zum Horizont wanderte versuchte ich zu verstehen, warum Elionore und Alberto über fast 50 Jahre hinweg genau gleich aussahen. "Hej.", sagte plötzlich jemand und vor Schreck wäre ich beinahe die Düne heruntergerutscht. Ein Berg von einer Person stand neben mir und seine Muskeln sprengten fast das T-Shirt auseinander. Eigentlich hätte ich vor ihm Angst haben müssen, aber er lächelte mich derart liebevoll an, dass er überhaupt nicht gefährlich wirkte. "Ich bin Nero.", stellte er sich vor. "Mein Name ist Lavenya." Er nickte und setzte sich neben mich. "Ich weiss." Erstaunt sah ich ihn an. "Wir wohnen im selben Haus." Stimmt, ich hatte ihn auf den ersten beiden Fotos gesehen. "Geht es dir gut?", fragte er. "Ich denke schon, ja. Besser als auch schon.", sagte ich und blickte wieder auf das Meer hinaus. "Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hast du bedeutend schlimmer ausgesehen." "Hast du mich weggetragen aus der Gasse?" Er nickte. "Elionore und ich haben dich entdeckt. Es war sehr klug von dir, nicht weiter in die Stadt hineinzulaufen, dann hätten wir Stunden mehr gebraucht, um dich zu finden." "Warum wolltet ihr mich denn überhaupt finden?", wollte ich wissen. "Das wird die Alberto erklären, ich stehe unter Schweigepflicht." Er grinste, als er mein enttäuschtes Gesicht sah und wuschelte mir sanft durch die Haare. "Komm, es ist schon beinahe sieben Uhr. Elionore dreht durch, wenn wir nicht pünktlich kommen."
Wir stiegen die Düne hinab und durchquerten ein paar Büsche und kletterten über einen hüfthohen Zaun in den Garten des Hauses. Wir durchquerten den ebenfalls sauber geschnittenen Rasen, gingen an einem kleinen Pavaillon vorbei und schliesslich schob Nero die Glaswand des Wintergartens zur Seite. "Essen kommen!", hörte ich Elionores Stimme durch das Haus rufen.

Gäa's VermächtnisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt