Kapitel 11 - Glücksmomente

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H A R R Y

Ich hatte den Überblick verloren. Die Kontrolle. Mich selbst. Spürte nichts mehr, nahm nichts mehr wahr. Seit wann ich hier saß? Keine Ahnung. Ich wusste nur, dass meine Jeans bereits klamm vor Nässe war, meine Glieder und Fingerspitzen steif dank der Kälte und meine Wangen vermutlich stark gerötet.

Es war dunkel geworden und das einzige Licht spendeten die sporadisch aufgestellten Laternen. Wie schnell sich ein einfacher Spätsommertag in eine eisige Nacht verwandeln konnte faszinierte und verängstigte mich zugleich. Bei jedem Atemstoß konnte ich weiße Atemwölkchen vor meinem Mund beobachten und das war auch das Einzige, was ich für lange Zeit tat.

Bis das Tor quietschte und sich mir somit sämtliche Nackenhaare aufrichteten. Ich konnte es noch nie leiden, wenn ich hier nicht alleine war. Egal, ob es ein Fremder oder ein Nachbar war, der meine Ruhe störte. Hier wollte ich alleine sein, ganz alleine mit ihnen. Das war schließlich der einzige Ort, der mir noch geblieben war.

Als ich zu allem Übel auch noch feststellte, wie sich das laute Knirschen der Fußsohlen auf dem Asphalt direkt in meine Richtung bewegte, betete ich zu Gott, es möge vielleicht bloß meine Oma sein, die sich Sorgen machte.

Natürlich war sie es nicht. "Hey." Ein einfaches Hey. Mehr nicht. Mehr brauchte es nicht, um mir meine sowieso schon vorhandene Gänsehaut zu verstärken. "Du bist also seit Neustem unter die Boxer gegangen?", witzelte Louis ungalant, weshalb ich ihm einen missbilligenden Seitenblick zuwarf. Er seufzte. "Gut, der war schlecht. Entschuldige bitte." Er machte eine kurze Pause. "Aber er hatte es verdient. Ich bin zwar wirklich niemand, der sich für Gewalt einsetzt, aber", er klopfte mir etwas unbeholfen auf die Schulter, "gut gemacht, Harry."

Amüsiert über seine verlegene Geste, verzogen sich meine Mundwinkel tatsächlich einen Moment lang etwas nach oben, doch das fiel schnell wieder.

"Was tust du hier?", richtete ich nun meine gesamte Aufmerksamkeit an ihn und musterte ihn prüfend. Louis schien überrumpelt, denn auch er starrte mich für eine kurze Weile wortlos an, ehe er wieder das Wort ergriff. "Ich hab mir Sorgen gemacht." Erstaunt schweifte mein Blick wieder hinüber zu ihm. "Ach tatsächlich?"

"Ja, verdammt", murmelte er vor sich hin und rutschte näher an mich. "Nicht!", wollte ich ihn schon abhalten, doch da hatte er sich schon neben mich in den Dreck gekniet. "Deine schöne Hose", jammerte ich leise und fühlte mich prompt schlecht, dass ich mich hier überhaupt hingesetzt hatte. Doch ihn schien es nicht zu kümmern. Stattdessen sah er den Grabstein vor uns interessiert an.

Anne & Robin Twist
Gestorben am 01.09.2001

Gone, but never forgotten. Till infinity and beyond.

Seine Gesichtsausdruck erstarrte, verhärtete sich und dennoch sah er zerbrechlich aus. Genauso, wie eben alle darauf reagierten. Verwirrung, Schock, Schmerz, Trauer, Alltag. Genau fünf Phasen. Und die letzte erreichten sie so schnell wie den Umschwung von der ersten auf die zweite. Ich kam von keiner einzigen los. Den Alltag konnte ich allerdings streichen.

"Sag jetzt bitte nichts. Nicht jetzt", presste ich mühsam hervor, meine Hände zitterten und ich konnte nicht sagen, ob es die Kälte oder der Frost in meinem Herzen war, der mich so schnell auskühlen ließ. Louis nickte stumm, musterte mich dann erneut. Dann fiel sein Blick auf das Grablicht. Eine richtige Kerze. Kein billiges LED-Lämpchen aus dem Supermarkt. Meine Eltern hatten immer Klasse gehabt, das sollte sich nie ändern.

Auf einmal holte er einen kleinen Gegenstand aus seiner Jackentasche und beugte sich dann vor zu dem Licht, nur um es dann in seine Hände zu nehmen und den Wind etwas abzuschotten. Der Gegenstand entpuppte sich als Feuerzeug und binnen weniger Sekunden erleuchtete eine kleine Flamme vor unseren Augen. Er stellte die Kerze zurück auf ihren Platz und rieb seine Hände aneinander, um anschließend warme Luft in eine Kuhle, die er mit ihnen gebildet hatte, zu pusten.

Caretaker of Love (larry au)✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt