Loslassen

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Ich wählte ihre Nummer am folgenden Donnerstag.

"Hallo?"
"Lia?"
"Ana? Bist das du?"
"Jap."
"Hey! Oh mein Gott, ich hab schon ewig nichts mehr von dir gehört, bestimmt das letzte Mal vor einem halben Jahr... also als... na ja..."
"Als ich noch mit Isabella zusammen war, du kannst es ruhig sagen."
"Okay, ja, tut mir leid, Bella ist da nur immer ein bisschen...empfindlich wenn man das Thema beginnt, deshalb wusste ich nicht, wie das bei dir ist, also wollte ich lieber vorsichtig sein, du weißt schon, also..., ne?"

Der Cringe Faktor dieses Telefongesprächs war soeben über 100 gestiegen. Isabella schien sich wohl kein Stück verändert zu haben. Mir fiel wieder ein, dass keiner ihrer Freunde sie mit Spitznamen "Isi" ansprechen durfte, sie nahm das als Beleidigung. Laut ihr durfte eine Frau und eine Künstlerin nicht Isi genannt werden, sondern brauchte einen Spitznamen mit Ästhetik.
Wie ich schon erwähnt hatte, Isabella war der Inbegriff von Tumblr.

"Ja, ich versteh schon was du meinst. Wie geht's dir so?"
"Na ja, das übliche Studentenleben halt."
"Gehst du eigentlich noch jedes Wochenende tanzen?"
"Jetzt nur noch jedes Zweite, warum?"
"Kannst du mich mal wieder mitnehmen?"

Stille am anderen Ende der Leitung. Lia war eine Freundin von Isabella gewesen. Sie war in ihrem ganzen Umfeld dafür bekannt gewesen, dass sie jedes Wochenende in einen Club ging. Egal wo, hauptsache sie konnte tanzen. Es ging eigentlich nur darum, wobei Alkohol für sie auch eine willkommene Nebensache war. Und besonders hatte Lia es geliebt, wenn jemand sich bereit erklärte, mit ihr mitzukommen. Ich war mehrmals mit ihr ausgegangen, um Tanzen zu gehen. Manchmal hatte es mir Spaß gemacht, einfach meinen Stress rauszulassen, manchmal hatte es mir aber auch keinen Spaß gemacht, weil man meiner Meinung nach doch zu oft von schmierigen Typen angemacht wurde und nach sowas war der Abend für mich oft zu Ende.
Noch immer schwieg Lia. Sie schien zu überlegen.
"Ist okay, wenn du Nein sagst, wegen Isabella und so. Ich kann das verstehen."
"Nein, ist schon okay. Ich nehm dich mit. Ich fand es ja auch immer ziemlich cool mit dir und ich will dich ja auch mal wieder sehen. Kannst du diesen Samstag?"
"Klar."
"Okay, ich schick dir dann alle Informationen bei WhatsApp."
"Okay! Danke Lia!"
"Kein Ding, echt. Bis Samstag!"

Am Samstag stand ich um 19 Uhr am Bahnhof und wartete auf Lia. Sie hatte eine mittelgroße Bar ausgesucht, die nicht wirklich ein Nachtclub war, deshalb öffnete sie auch schon früher am Abend. Doch trotzdem konnte man dort zum Tanzen hingehen. Wir waren etwas außerhalb von Düsseldorf, in einem der äußeren Stadtbezirke, jedoch kam mir die Nachbarschaft irgendwie bekannt vor. Plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter. Ich drehte mich um und da stand sie. Lia hatte ihre hellblonden Haare zu einem unordentlichen Dutt gemacht. Ihre Bräune kam im fahlen Licht der Laterne nicht wirklich zum Vorschein, doch ich sah trotzdem deutlich, dass sie für Make Up noch immer ein besonderes Talent hatte. Sie zog mich in eine Umarmung, dann musterte sie mich. "Du hast dich kaum verändert!", bemerkte sie. Ich entgegnete:"Na ja, war ja auch nur ein halbes Jahr." "Okay, stimmt auch wieder."
Wir gingen nebeneinander zur Bar. Es dauerte zu Fuß ungefähr 20 Minuten vom S-Bahnhof aus. Auf dem Weg unterhielten wir uns.
"Also, wie ist die Schule? Du bist doch noch in der Schule, oder?"
"Ja, mein letztes Jahr. Na ja, anstrengend eben. Ich muss viel fürs Abi lernen. Wie ist die Uni?" "Auch anstrengend." Sie lachte. "Aber trotzdem gut. Ich habe verdammt gute Professoren und ich glaube echt, dass ich gut durch dieses Semester kommen werde, wenn ich so weiter mache." "Das ist gut!" Es herrschte Schweigen. Ich wusste, welche Frage sie jetzt erwartete. Es war nur eine Frage der Zeit, wann ich sie stellte. "Und, wie geht's Isabella so? Ist ihr Studium genau so erfolgreich wie deins?" "Also ich kann nicht wirklich viel über Bellas Studiengang sagen, ich bin ja nicht drin, logischerweise." Lia studierte Germanistik. "Aber von dem, was Bella immer wieder so erzählt scheint sie ganz zufrieden zu sein. Sie erzählt halt nicht so viel über die Uni, wenn wir uns treffen." Ganz zufrieden. Das hieß, sie war unzufrieden. Isabella war diese Person, die bei den meisten Dingen entweder Feuer und Flamme oder komplett enttäuscht war. Insbesondere, wenn es um ihr Studienfach ging. "Aha...", sagte ich. Lia nickte. "Siehst du, du weißt, was ich meine. Aber wie gesagt, ich weiß auch nicht allzu viel über ihr Studium." "Und privat?" "Nichts besonderes." Ich zog eine Augenbraue hoch. "Was soll das heißen?" "Also, sie hat vor so drei Monaten wieder angefangen, auf Dates zu gehen, aber sie hat nichts Festes oder so." Darauf konnte ich nur ein "Okay" antworten. Was sollte man zu sowas auch schon sagen. Hey supi, da freu ich mich echt für sie, toi toi toi das sie die Liebe ihres Lebens findet! Ich drück ganz kräftig die Daumen! Nein, sowas sagte man als Ex-Freundin nicht. Da stand einem eher das monotone "Okay" zu.
Wir erreichten den Club und nach einem Drink an der Bar (Lia bestellte einen starken Cocktail, ich ging es mit einem Bier erst mal gelassen an), ging sie auf die Tanzfläche und ich folgte ihr. Es war eher Lenas Rat, mal wieder auszugehen, der mich hierher gebracht hatte, als mein eigener Wille. Und das zeigte sich auch. Ich konnte mich nicht mehr in der tanzenden Menge untergehen lassen. Stattdessen schienen mir meine Bewegungen zu komisch und die Musik war mir mittlerweile viel zu laut und dröhnend. Und die schwitzende, tanzende Menschenmasse war auch kein angenehmer Ort mehr. Eine Stunde hielt ich es aus, dann musste ich raus. An der Bar bestellte ich mir ein Glas Wasser und atmete erst mal durch. Das war ein Fehler gewesen. Lena lag schon richtig damit, dass ausgehen gut für mich war, doch ich hatte ihren Rat komplett falsch interpretiert. Ich hatte mich in diesem halben Jahr verändert, und das zeigte sich gerade deutlich. Ich wusste, dass ich jetzt besser nach Hause fahren sollte. Nach kurzer Suche fand ich Lia in der Menge und sagte ihr, dass ich gehen würde. Sie schien schon zu sehr mit der Menge verschmolzen zu sein, als dass sie gehen könnte.
Draußen checkte ich Google Maps und erkannte, dass ich nur 15 Minuten von dem Ort war, wo Lenas Poetry Slams immer statt fanden. Ich wusste, dass es dort eine Haltstelle gab, an der regelmäßig Busse in meine Stadt fuhren. Die S-Bahn hingegen würde das nächste Mal in einer Dreiviertelstunde kommen, also machte ich mich auf dem Weg in die andere Richtung. Die Straße war leer und ungewöhnlich ruhig. Meine Sneaker machten nur ein leises Geräusch auf dem Bürgersteig. Plötzlich hörte ich ein zweites Paar Schuhe auf dem Stein. Schwerere, schnellere Schritte. Ich beschleunigte meinen Gang.

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