Elf Briefe an Niall

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Niall war überzeugt, dass er irgendeine Störung hatte, die ihn daran hinderte, auf andere Menschen einzuwirken. Entweder das, oder es war seine Bestimmung, ein Einsiedler zu werden, der allein in einer Hütte aus Stroh und Schlamm lebte und eines Tages umgeben von Mecces Tüten und mit der Gitarre in der Hand aufgefunden wird. Ernsthaft.

Irgendwo auf der M6 fing der Tourbus an, seltsame Geräusche zu machen. Also mussten der Fahrer und das ganze Gefolge an der nächsten Tankstelle halten, wo ihnen sofort erklärt wurde, dass sie dort für ein paar Stunden bleiben würden, während jemand den Bus reparierte (irgendwas mit dem Ventil oder so, Niall hatte nicht wirklich zugehört, als Liam es ihnen erklärte). Der Rest der Jungs nutze das gute Wetter und die Pause aus, während Niall unumwunden lieber drin geblieben wäre um einen weiteren von Charlies Briefen zu lesen.

Also ging er in seine Kabine und durchwühlte seine Rucksack, auf der Suche nach dem kleinen Päcken mit den Briefen, er wunderte sich, weshalb er so menschenscheu gegenüber seinen besten Kumpel war. Er lauschte Liams und Harrys Unterhaltung, die durch das offene Fenster zu ihm herdrang.

"Wieso spielst du nicht mit uns Fußball?"

"Ich habe keine Lust Fußball zu spielen."

"Dann geh doch mit Niall Dart spielen."

"Niall schummelt."

Liam schnaubte."Er gewinnt jedes Mal, meintest du wohl."

"Scheiß Ire.", murmelte Harry vor sich hin.

Niall zog es in Betracht, eine Bemerkung dazu zu machen, doch stattdessen lächelte er und strich mit dem Daumen entlang der Falte des Umschlages. Es knisterte leicht. Mit gemischten Gefühlen nahm er den Brief raus, die Sonne schien hell durchs Fenster und wärmte seine Haut.

Lieber Niall,

Ich habe mir gedacht, dass jetzt, wo ich dir doch im letzten Brief von Eliza erzählt habe, auch noch mehr erzählen kann.

Wir haben sie adoptiert als ich fünf war, ein neun Monate altes Mädchen mit strohblondem Haar und einem breiten Grinsen. Sie hat unser Leben so sehr verändert. Ich wollte immer eine Schwester haben, aber es ging nicht. Meiner Mutter wurde gesagt, dass sie keine Kinder bekommen könnte. Es war beinah ein Wunder, das ich geboren war.

So hat Mum mich immer genannt. Ein Wunder.

Aber das machte nichts, denn da war ja noch Eliza. Glücklich, verspielt und ein kleiner Sonnenschein, wenn ich das so sagen darf, ohne mich allzu klischeehaft anzuhören. Und sie war meine Schwester. Natürlich hat sie viel geschrien und ich konnte keine Plakatfarbe mehr im Haus rumliegen lassen, (nicht nach einem unglücklichen Unfall mit den Seidengardinen) aber sie änderte mich. Es war, als hätte ich auf einmal Verantwortung.

Ich hatte nie ein kleines Geschwisterchen, dachte Niall. Nur seinen großen Bruder Greg.

Draußen schoss offensichtlich irgendjemand ein Tor, was sich bestätigte, als Louis begann laut zu schreien und zur anderen Seite rannte. Ein kleiner Streit brach aus und plötzlich hörte man jemanden "Kitzelkampf!" kreischen. Kreischen. Erwachsene Männer, kreischend. Vielleicht hat er ja doch kleinere Geschwister.

Sogar vier davon.

Plötzlich war ich eine große Schwester und ich musste für sie da sein, ihre Hand halten und ihren Bauch kitzeln. Ich habe mich schon vorbereitet, ein Leben zu haben in dem ich ihr Dinge beibringe und ihr meine Sachen ausleihe, sie von der Schule abhole oder ihr Tanzschritte beibringe, und ich wollte es auch wirklich. Ich wollte ihr immer eine große Schwester sein können, weißt du?

Aber ich konnte nicht. Ich konnte mich nicht so um sie kümmern wie ich es wollte. Sechs Jahre später, als ich dreizehn war, sah ich meine eigene Schwester immer schwächer werden, nachdem so viel bereits verloren war.

Nach dem Unfall hat Eliza einfach aufgegeben. Sie hat ihr Leben aufgegeben, sie hat mich aufgegeben, sie hat alles aufgegeben. Alles was sie noch tat, war weinen. Ich habe alles versucht, um sie noch zu retten, doch vielleicht wusste ich bereits, dass dies unmöglich war.

Wie sollte ich auch ihr Leben retten, wenn ich Schuld am Tod unserer Eltern war?

Ich hoffte, dass vielleicht jemand Eliza am Leben lassen würde, nicht für mich, aber für sie. Sie war zu jung, zu fröhlich und sie hat nichts falsch gemacht. Vielleicht könnte Gott seine Hände ausstrecken und uns helfen, bitte hilf mir und rette sie, b i t t e. Ich saß jeden Tag an ihrer Seite, Jade brachte mich, ich hielt ihre Hand während das Leben in ihr verblasste. Zu groß war die Angst, sich von einem Mädchen verabschieden zu müssen, von dem man wusste, dass man sie nicht behalten konnte.

Nialls Herz wurd ihm schwer, seine Hände strafften das weiße Papier.

Sie hatte eine Puppe die sie mitnahm, wenn sie ins Krankenhaus musste. Ein kleines süßes Ding aus Wolle und Filz mit blauen Perlen als Augen. Unsere Tante schenkte sie ihr, als sie uns aus Australien besuchte, Eliza war noch vier. Ich hatte eine mit rotem Haar und grünen Augen, die glitzerten. Ich nannte die Puppe Emerald. Elizas hieß Sapphire. Sie umklammerte sie während sie starb.

Er wollte... Niall wusste nicht, was er wollte. Er wollte Charlie beschützen, ihr helfen, sie in den Arm nehmen und ihr sagen, dass sie hübsch ist, ihre Schwester und Familie retten und all die anderen, die sie verloren hatte, nur um Charlie zu retten.

Wir haben sie mit ihr vergraben.

Ich vermute, nachdem ich sie verloren habe, habe ich auch mich verloren. Alles was ich wollte, war dahinzuschwinden, mich unter der Decke zu verstecken und die Augen verschließen. Und wenn ich die Augen öffne, bin ich wieder zurück zu Hause, mit einer Mutter, einem Vater und einer kleinen Schwester, alle gesund und munter. Aber stattdessen war da ein riesiges Haus voller schreiender Kinder, da waren Anwälte und erbärmliche Blicke, eine neue Schule, Geflüster, ein ein schlacksiger Junger mit haselnussfarbenen Augen der mir sagte, dass es ihm Leid tat, dass er mich nicht vor sowas beschützen konnte. Ich kam nicht umhin zu denken:

Werde ich auch sterben?

Weil das ist, was alle in meinem Leben machen. Vier Menschen, vier Menschen die mir ALLES bedeuteten verschwanden, einer nach dem anderen. Deshalb halte ich mich von anderen eher fern. Selbst jetzt mit Alice. Angst. Sie ist meine beste Freundin. Was ist, wenn ich sie auch verlieren werde?

Ich denke, dann würde ich wirklich alles verlieren.

Und vielleicht möchte Niall Charlie auch kennenlernen. Sie glücklich machen.

Es hat nicht mehr geregnet. Es ist ziemlich warm im Moment. Heute Abend wird Dave vielleicht für uns grillen. Ich bin mir nicht sicher, ist auch egal. Er wird das Fleich wahrscheinlich verbrennen und dann wird sich jemand beschweren, sodass ein Streit entsteht, weil so ist das Leben in einem Heim nunmal. Blöd.

Nächste Woche beginnt wieder Schule, also weiß ich nicht, ob ich so viel schreiben werde. Vielleicht ja doch. Es kommt halt darauf an. Du ließt die Briefe ja eh nicht.

Alles Liebe,

Charlie ❤️

Es war eigenartig, wie leicht die Gefühle Niall überkamen. Es war dumm von ihm, nicht vorher darüber nachzudenken. Er wusste nur, dass er sie finden musste, einfach um sie fest zu Umarmen und um ihr zu sagen, dass er die ganze Zeit die Briefe ließt. Einfach um ihr zu sagen, dass ihre einundzwanzig Briefe nicht ignoriert wurden. Einfach um ihr zu sagen, dass er sich ganz vielleicht ihn sie verliebt hat, gleich von Anfang an.

Er musste sie finden.

HI :)

Ich würde mal gern wissen, ob ihr auch so ein Mitleid für Charlie habt? Gibt es etwas Schlimmeres, als seine Eltern und noch dazu, seinen Bruder, oder in Charlies Fall, ihre Schwester zu verlieren? Wenn ihr Geschwister habt, könnt ihr bestimmt Charlies Gefühle nachvollziehen (naja, so ist es jedenfalls bei mir...) Hoffentlich hat euch das Kapitel gefallen,

Janette (:

Twenty one letters to Niall (Übersetzung)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt