*parachute (ingrid michaelson)*
Ich sitze still an dem braunen Holzesstisch, bei Chris zu Hause. Ich bin nicht die einzige, die ihre Klappe hält, denn auch Chris sagt kein Wort. Die Atmosphäre ist ganz schön merkwürdig, während wir an einem Tisch mit seinen Eltern sitzen und die Gemüsepfanne essen. Als würden seine Eltern schon ahnen, was jetzt kommt, obwohl das nahezu unmöglich ist, denn die beiden wissen kaum etwas über Chris' Leben. Dafür vertraut ihnen ihr Sohn zu wenig.
Das große Geständnis ist noch gar nicht gesprochen und trotzdem ist mir alles schon so unangenehm, dass ich am liebsten einfach aufstehen und gehen würde. Das kann ich meinem besten Freund aber echt nicht antun. Ich hänge jetzt hier genau so drinnen, wie er.
Chris wirft mir einen Blick zu, der mir sagt, dass auch er diese drückende Stimmung im Raum spürt. Er räuspert sich laut und legt dann sein Besteck mit einem unnatürlich lautem Klirren auf den Tellerrand. Oh Gott, jetzt kommt's.
Langsam lasse auch ich meine Gabel sinken, behalte sie aber in der Hand. „Ich muss euch etwas sagen", eröffnet Chris das Gespräch und mustert seine Eltern kurz, bevor er schnell wieder auf seinen Teller schaut. Ihm ist dieses Gespräch total unangenehm, das würde ihm jeder ansehen. Nur seine Eltern anscheinend nicht.
Die beiden Erwachsenen werfen sich einen Blick zu. Chris' Vater runzelt die Stirn. Ich unterdrücke den Drang danach, Chris fest in meine Arme zu schließen, um ihm zu zeigen, dass ich für ihn da bin. Da das ja schlecht geht und auch irgendwie unangemessen wäre, greife ich stattdessen kurzerhand unter dem Tisch nach der Hand meines besten Freundes und umschließe sie fest, um ihm Mut zu machen. Dankbar für diese kleine Geste streicht er mir sanft mit seinem Daumen über den Handrücken, während sein Blick fest und starr auf seine Eltern gerichtet ist.
„Ich bin schwul."
Wow. Das ging jetzt irgendwie schneller als ich dachte. Mein Blick ist gesenkt, aber nur so weit, dass ich gerade noch so in die Gesichter seiner Eltern schauen kann. Seine Mutter ist wie erstarrt und die Augen seines Vaters sind auf einen unbestimmten Punkt hinter Chris gerichtet. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie überhaupt gehört haben, was Chris gesagt hat.
Es ist komplett still im Raum und so fällt mir auf, dass es vor dem coming-out gar nicht so leise gewesen ist, wie es sich angefühlt hat. Vorher war es leise, jetzt ist es nahezu totenstill im Raum. Beängstigend.
Ich verstehe auch nicht, warum seine Eltern so gar nicht auf Chris' Worte reagiert haben. Ihr Sohn hat ihnen gerade etwas so wichtiges erzählt und die beiden sagen einfach kein Wort dazu.
Ich schaue wieder zu meinem besten Freund. Seine Augen sind auf den Teller vor ihm gerichtet und er hockt auf dem Stuhl wie ein Häufchen Elend. In dieser Position tut er mir einfach total leid. Meine Hand hat er auch los gelassen, ich kann ihm also durch meine bloße Nähe nicht mehr zeigen, dass ich für ihn da bin. Stattdessen spielen seine Finger nervös mit dem Ende der Tischdecke.
Ich kann nur raten, was er in diesem Moment fühlt. Es wird wohl eine Mischung aus Erleichterung, Verwirrung, Enttäuschung und Erwartung auf die Reaktion seiner Eltern sein. Ich fühle mich einfach nur hilflos, weil ich nicht weiß, was ich machen soll, um die gekippte Stimmung wieder aufzulockern. Obwohl diese ja schon von vornherein nicht gut war.
Nachdem nach einer gefühlten Ewigkeit bei seinen Eltern immer noch eine Reaktion ausbleibt, räuspere ich mich laut und ziehe so ihre Blicke auf mich.
Ja, so genau habe ich mir das nicht überlegt. Ich weiß nämlich überhaupt nicht, was ich eigentlich sagen wollte. Allerdings wird mir diese Entscheidung auch von Chris' Mutter abgenommen.
„Bist du daran Schuld?"
Ihr Blick durchbohrt nun mich, während sie mit einem Finger ihre Brille in die richtige Position bringt, und lässt mich nervös auf dem Stuhl herum rutschen. Gerade noch so kann ich mir ein unhöfliches „Hä?", verdrücken. Das hätte unsere Situation nur noch verschlimmert.
Stattdessen frage ich sie: „Wie meinen Sie das?"
Sie kneift die Augen zusammen. „Ich dachte ihr wärt noch zusammen", sagt sie und stützt ihren Kopf auf ihrer Handfläche ab, aber nicht auf die entspannte Art, sondern eher so, als findet in ihrem Inneren ein Kampf statt.
Mein Blick schweift weg von seiner Mutter und stattdessen kurz zu Chris. Hat er seinen Eltern echt nicht erzählt, dass wir schon vor einer gefühlten Ewigkeit Schluss gemacht haben? Chris schaut mich bittend an und ich verstehe, dass wir das auch nachher klären können. Er wird schon seine Gründe für diese Lüge gehabt haben.
Ich setze also ein gefälschtes Lächeln auf. „Nein, wir sind nicht mehr zusammen", sage ich leise.
Genug, um nicht der Lüge bezichtigt werden zu können, aber nicht genug, um Chris in noch mehr Schwierigkeiten zu bringen.
Seine Mutter nickt kurz, als würde sie verstehen. „Also bist du daran schuld, dass er so ist."
Dieses Mal hat sie die Aussage nicht mehr als Frage formuliert. Es tut selbst mir weh, dass sie homosexualität wie eine Art Krankheit ansieht und ich sehe auch in Chris Augen, wie sehr ihn das verletzt. Außerdem ist diese Aussage von ihr viel zu absurd, als das ich je auch nur daran gedacht hätte, so etwas zu sagen. Als ob irgendwer daran schuld ist, dass Chris eben auf Jungs steht. Daran ist er ja nicht einmal selbst schuld, das ist einfach so.
Wieder kehrt diese drückende Stille zurück, aber ich kann förmlich sehen, wie es im Kopf meines besten Freundes arbeitet. Ich hoffe, dass er überdenkt, was er sagen und tun muss, um die Situation noch ansatzweise zu retten.
Auf einen Schlag ändert sich sein Gesichtsausdruck, er stemmt seine Hände auf den Tisch und steht so weit auf, dass sich sein Stuhl nach hinten schiebt. Seine Lippen sind eng aufeinander gepresst und ich sehe ihm an, wie aufgebracht er ist. Mit diesem Blick jagt er sogar mir ein wenig Angst ein.
Er lehnt sich näher zu seiner Mutter. „Das ist der größte Scheiß, den ich je gehört habe", wütend funkelt er sie an. „Als ob Dina, oder irgend eine andere Person, daran schuld ist, dass ich schwul bin. Hört ihr euch eigentlich manchmal selbst zu?"
Seine Mutter scheint genau so überrascht, über die plötzlich wütende Reaktion ihres Sohnes, wie ich mich fühle.
Kurz wartet Chris auf eine Reaktion, doch da schon wieder keine zu erkennen ist, greift er zu einem drastischen Mittel.
„Ihr könnt mich mal", sagt er laut, greift nach meiner Hand und zieht mich aus dem Esszimmer.
Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet.
*****
Solche Eltern wünsche ich keinem. Oder findet ihr die Reaktion von Chris' Eltern berechtigt?
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Just OrDINAry
Teen FictionOrdinary, gewöhnlich, durchschnittlich, normal, unauffällig. Alles Worte, die mich perfekt beschreiben. Kein Wunder, dass im Ersten sogar mein Name steckt. Irgendwie scheine ich dann aber doch nicht mehr so gewöhnlich zu sein, als ich nach der Jahrg...