Willkommen auf Primrose Cottage, meine liebe Nichte. Ich wünschte ich könnte hier sein, um dich zu empfangen, doch ich werde dringend in London gebraucht und kann vermutlich erst in zwei Wochen zurückkehren. Die Bediensteten sind von deiner Ankunft unterrichtet; sie werden alles in ihrer Macht stehende tun, damit du dich wie Zuhause fühlst. Sollte dir etwas dringend fehlen, wende dich bitte an unsere Nachbarin Mrs. Herman - sie weiß Bescheid und wird dir mit Sicherheit gerne Gesellschaft leisten.
Ich hoffe du wirst die Großstadt nicht allzu sehr vermissen, falls doch verspreche ich dir, dich auf meinen nächsten geschäftlichen Ausflug mitzunehmen.
NathanBonnie lies den an sie gerichteten Brief sinken und musterte das überraschend schlichte Steingebäude vor ihr. Man hatte ihr gesagt, dass ihr Onkel ein wohlhabender Mann wäre, weswegen der Anblick dieses praktikablen und in die Jahre gekommenen Anwesens sie milde überraschte, wenn auch nicht im negativen Sinn. Efeuranken kletterten die alten Mauern empor und unterstrichen dadurch den rustikalen Charme des Cottages, den es mit seinen kreideweißen Fensterläden und üppig bepflanztem Rasen zweifellos hatte. Unter anderen Umständen hätte sie sich womöglich darüber gefreut, in einem so hübschen Haus wohnen zu dürfen, doch heute hatte sie nur wenig Begeisterung dafür übrig. Die Anreise war lang und unbequem gewesen, weshalb ihr Hintern sich anfühlte, als wolle er ihr die holprige Kutschenfahrt im Leben nicht mehr vergeben und ihr Kopf schmerzte von den vielen, teils widerlichen Gerüchen, die das alte Laken im Gasthaus abgesondert hatte. Bei dem Gedanken daran, dass in dem Cottage ein weiches, frisches Bett auf sie wartete, hellte sich Bonnies Stimmung merklich auf und mit neuem Enthusiasmus ließ sie den schweren Türklopfer aus Messing einige Male auf das weiß bemalte Holz der Eingangstüre niedersausen.
Es dauerte eine Weile - sie hatte sich schon überlegt erneut zu klopfen -, als eine Frau mittleren Alters ihr öffnete und sie höflich hereinbat.
"Wir haben Sie schon erwartet, Miss Reading", gab die Bedienstete freundlich zu verstehen, während sie Bonnie den dunklen Reiseumhang abnahm und einen herbeigeeilten Burschen in Richtung der Koffer schubste. Der jungen Frau entging nicht, wie das Personal ihr etwas erbärmlich wirkendes Gepäck, bestehend aus zwei handlichen Reisekoffern und einer mitgenommenen Hutschachtel, musterte, doch sie machte sich nichts daraus. Es war durchaus unüblich für eine Frau ihres Standes nicht mehr Hausstand bei sich zu haben, vor allem wenn eine baldige Rückkehr nicht abzusehen war, doch es gab zu viel, das Bonnie aus ganzem Herzen nie wieder sehen wollte. Zu viele schmerzhafte Erinnerungen hingen an den meisten ihrer Besitztümer, die nun kistenweise auf dem Dachboden eines Londoner Stadthauses verstaubten. Aus den Augen aus dem Sinn, so hatte sie gehofft, dass es sein würde und tatsächlich hatte ihr die umständliche Reise durch verwunschene Wälder und Städtchen geholfen, das erste Mal seit langem an etwas anderes als den Unfall zu denken.
"Ich bin die Haushälterin, nennen Sie mich bitte Bridgit", fuhr die ältere Angestellte fort und richtete sich stolz zu ihrer vollen Größe, noch immer langte sie Bonnie gerade mal ans Kinn, auf. "Während Mr. Northwood fort ist, untersteht das Haus meiner Führung, aber natürlich sind sie eine Ausnahme, Miss Reading. Wenn sie einen Wunsch haben oder gerne etwas im Cottage anders erledigt haben möchten, dann seien sie nicht schüchtern. Der Herr hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie nicht nur Gast hier sind, sondern Familie."
Dankbar lächelte sie die Haushälterin von Primrose Cottage an. Obwohl Bonnie den Herren des Hauses noch nie getroffen hatte, war er ihr doch nicht ganz fremd. Durch seine Briefe und nun auch sein Personal lernte sie ihn langsam etwas kennen und konnte mit Erleichterung feststellen, dass er überaus zuvorkommend und freundlich zu sein schien. Seine Bemühungen minderten ihre Schuldgefühle darüber, sich mehr oder weniger auf unbegrenzte Dauer auf seinem Anwesen aufzuhalten, etwas, denn er schien damit durchaus einverstanden. Womöglich war er hier draußen ein wenig einsam; laut den Briefen ihrer Mutter - in letzter Zeit sahen sie sich kaum persönlich, wenn es sich vermeiden ließ - hatte er keine Kinder und war auch nie verheiratet gewesen. In einem Dorf wie diesem konnte man vermutlich nicht immer darauf zählen, dass jemand für einen Zeit hatte. Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit schon, unter knapp 300 Einwohnern einen guten Freund zu finden?
Sich fest vornehmend, ihren Onkel nach seiner Rückkehr zu seinem Leben hier näher zu befragen, nahm sie die Hutschachtel in den Arm. Der Rest des Gepäcks war bereits verschwunden und der junge Bedienstete mit ihm."Wohin damit?"
Überrascht schüttelte Bridgit den Kopf. "Nein, bitte lassen Sie den doch stehen. Pascal wird sich gleich darum kümmern, wo ist der Junge denn nur ..."
"Das macht wirklich keine Mühe, die Schachtel ist federleicht. Außerdem würde ich mich so oder so gerne frischmachen, bevor ich mich ein wenig umsehe", erwiderte Bonnie freundlich, aber entschlossen, weshalb die Haushälterin nicht weiter versuchte sie umzustimmen und stattdessen mit ihr im Schlepptau die knarzende Holztreppe hinaufstieg.
Der Grundriss des Anwesens war simpel und effizient; im ersten Stock schienen sich alle Schlafzimmer und Bäder zu befinden, während im Untergeschoss gelebt und gearbeitet wurde. Müde, aber doch interessiert musterte Bonnie die beinahe antiken Holztäfelungen des Flures, den sie entlang geführt wurde, bis Bridgit schließlich vor der vierten Tür rechts stehen blieb und sie der jungen Frau aufhielt.
"Bitte sehr, Miss. Wir haben es sofort hergerichtet, als wir von ihrer Ankunft erfahren haben. Aufgeregter als wir war nur der Hausherr selbst, immerhin bekommen wir hier nicht so oft Besuch."
"Es ist wirklich bezaubernd. Ich würde mich gerne bei meinem Onkel für seine Gastfreundschaft bedanken, doch es scheint, dass er in London aufgehalten wurde?"
Sie schüttelte betrübt den Kopf. "Dabei hat er sich so auf sie gefreut, Miss. Die Wochen bis zu seiner Rückkehr werden ihnen hoffentlich nicht allzu langweilig vorkommen."
"Ich bin mir sicher es gibt hier einiges zu entdecken", beruhigte Bonnie sie und meinte jedes Wort davon. Obwohl sie in der Stadt geboren war, hatte sie noch nie eine Gelegenheit ausgelassen, an einem Picknick oder einer kleinen Wanderung mit Bekannten teilzunehmen und in ihrer Vorstellung würde ihr Aufenthalt in Maplehill eine einzige lange Anreihung solcher Aktivitäten sein.
Die Haushälterin ging, um ihrem Gast ein wenig Zeit für sich zu geben und Bonnie begann sich in dem nicht allzu großen, aber herrlich hellen Zimmer umzusehen. Der alte Parkettboden knirschte unter ihren Füßen, als sie zu dem großen Doppelfenster wanderte, das, gegenüber dem altmodischen Doppelbett mit Baldachin, einen großartigen Ausblick auf den Mischwald hinter Primrose Cottage bot.
Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich wieder heimisch an einem Ort; ein wenig merkwürdig, befand Bonnie selbst, da sie doch gerade erst angekommen war. Das Haus in London, nein die ganze Stadt, war ihr schon seit geraumer Zeit zuwider geworden. Jeder Raum, jeder Ort, jede Bekanntschaft war mit ihm verknüpft. Mit ihm, dem Unfall und allem was danach gekommen war. Bonnie spürte die ihr mittlerweile vertraute Schwere sich auf ihre Schultern legen und ihre Brust zuschnüren, doch sie wehrte sich. Dies war ihr Neuanfang, ihre zweite Chance, und sie würde London hinter sich lassen - das war bereits beschlossene Sache und nichts und niemand würde sie davon abbringen.
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Dorfgeflüster
Romance1811 in England, Maplehill. Eine junge Frau aus London muss vor den bösartigen Gerüchten der Städter in ein kleines Dorf fliehen. Dort wartet scheinbar gar nichts auf Bonnie Reading außer Unmengen an Natur, Stille und langatmigen Teekränzchen. Ein V...