Kapitel 27 - Wer verliert, gewinnt

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Zwei Tage nach Agnes Besuch, Primrose Cottage

Mit einem Anflug von Melancholie ließ Bonnie den Blick über die weiß getünchte Mansarde des Cottages gleiten, das ihr das letzte halbe Jahr über ein Rückzugsort voll von Wärme und Herzlichkeit gewesen war. Es bestand kein Zweifel für die junge Frau, dass sie Primrose Cottage und seine Bewohner vermissen würde, ganz gleich wohin das Leben sie führen würde.

Nach den letzten Tagen waren auch die letzten Schneereste verschwunden und hatten nichts als kleine Pfützen hinterlassen, denen Ms. Reading auf ihrem Weg zu der Kutsche mit größter Sorgfalt ausgewichen war.
Ihr Gepäck war bereits verladen; es war nicht bedeutend mehr oder weniger als bei ihrer Ankunft. Die Trauerkleidung der letzten Saison hing noch in dem großen Schrank des Gästezimmers, das sie seit dem Sommer bewohnt hatte, und ein Paar Schuhe war zu verschlissen, um noch etwas damit anfangen zu können. Den Rest hatte Bridgit, die Abreise ihres Gastes wortkarg begleitend, in die zwei Reisekoffer und die Hutschachtel gestopft, mit denen Bonnie angekommen war.

Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bevor sie sich überwinden konnte den Blick abzuwenden und ihre Röcke zu raffen. Niemand wartete auf sie in der Kutsche, doch das war ihr nur recht. Sie könnte die Minuten der Stille gut gebrauchen, bevor man ihre Entscheidung in Frage stellte, und hatte alles Notwendige bereits arrangiert. Der Brief für Mr. Northwood war auf seinem Weg; er würde informiert sein, bevor die Sonne am nächsten Tag unterging. Den Abschied von Bridgit hatte Bonnie kurz gehalten, denn sie hatte befürchtet, dass die Haushälterin es ihr ausreden wollte, zu gehen. Tatsächlich hatte diese sehr an sich halten müssen, um ihren Gast nicht bis zu Nathans Heimkehr auf Primrose Cottage festzuhalten.

Mit einem Fuß auf dem Trittbrett der Kutsche, hielt Bonnie inne. Sie fragte sich noch, wer über den Kiesweg gelaufen kam, als eine Hand an ihrem Ellbogen sie bereits zurück auf den Boden zog.

"Wo - willst du - um diese Uhrzeit -  hin?", keuchte eine atemlose Ms. Stafford, deren Gesicht von der ungewohnten sportlichen Betätigung glühte. Das weiße Teekleid, das sie heute trug, war an den Säumen von Schlamm überzogen; ganz offensichtlich war es nicht dazu gedacht gewesen, in Wind und Wetter getragen zu werden.

Überrumpelt suchte Bonnie nach den richtigen Worten für ihre ehemalige Freundin. Deren Auftauchen war so plötzlich gewesen, dass die Gefühle erst aufholen mussten.
"Ich dachte nicht, dass ich mich bei Ihnen abmelden müsste, Ms. Stafford, oder gar verabschieden", sagte Bonnie schließlich, als sie sich wieder gefangen hatte. In ihrer Stimme schwang der unterdrückte Zorn für die Person mit, die all dies notwendig gemacht hatte. Sie hätte niemals Primrose Cottage verlassen müssen, wenn Marissa nicht aus dem Nähkästchen geplaudert hätte.

Marissa zuckte nicht einmal mit der Wimper, doch Bonnie meinte ihr heute nicht die übertriebene Selbstsicherheit anzusehen, mit der sie für gewöhnlich durchs Leben stolzierte. Ihr Haar war notdürftig hochgesteckt und der Wind zerrte an den losen, gar nicht mehr so seidigen Strähnen, die herausgefallen waren. Bonnie konnte sich den Zustand der Nachbarin nicht anders erklären, sie musste in Eile gewesen sein.

"Nun gut, aber was ist mit Mr. Northwood? Gedenkst du abzureisen, ohne dich von ihm zu verabschieden?"

Mit einigem Kraftaufwand befreite Bonnie sich aus Marissas eisernem Griff. "Ich wüsste nicht, was Sie das angeht."
Sie war nicht in der Stimmung sich von der Stafford-Tochter herumkommandieren zu lassen. Marissa hatte in den letzten Wochen genug angerichtet, ohne dass sie nun auch Bonnies würdevollen Abschied von Primrose Cottage zerstörte. 

Marissa kniff die Augen zusammen als würde sie in eine saure Zitrone beißen. "Lassen wir das alberne Spiel sein. Du hast allen Grund verstimmt zu sein, jedoch bitte ich dich zu bedenken ..."

"Verstimmt?", wiederholte Ms. Reading mit einem fassungslosen Lächeln. "Das wäre furchtbar untertrieben. Deine Entschlossenheit, mir meine Chance in Maplehill zunichte zu machen, hat dazu geführt, dass ich nun abreisen muss. Nichts anderes; das warst alles du. Wie muss es dich mit Stolz erfüllen, mich endlich losgeworden zu sein."

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