Silvesterabend, einige Monate nach Mr. Northwoods Rückkehr
Eine dicke Schneeflocke nach der anderen landete unter Bonnies schwarz umrandeten Augen und drohte Bridgits Kunstwerk zu verwischen. Mit größter Vorsicht hob sie einen ihrer gefütterten Handschuhe an ihr Gesicht und tupfte es trocken.
"Bist du eingeschlafen?"
Auf Nathans leise Nachfrage hin beeilte sie sich seine ausgestreckte Hand zu ergreifen und von dem Trittbrett der Kutsche zu steigen. Da sich der lange Abend - und das Jahr gleichermaßen - dem Ende zuneigte, wäre es sowieso nicht weiter schlimm, wenn der Kajal im Schneetreiben verlaufen würde. Bonnie war nicht besonders eitel und Mr. Northwood würde sich nicht weiter darum kümmern, dass seine angebliche Nichte die Augen eines Pandabärs spazieren trug.
"Nein. Um ehrlich zu sein war die Kutschfahrt spannender als alle Gespräche, die nach dem Brandy bei den Roberts kamen", schoss sie ohne zu Zögern zurück. Nathan und sie waren seit seiner Rückkehr aus London eng zusammengewachsen, wie man es von zwei gleichgesinnten Freunden unter einem Dach erwarten mochte, und sie fürchtete sich nicht mehr, unverschämte Aussagen wie diese vor ihm zu tätigen.
Scheinbar nonchalant half er ihr aus dem Wagen, doch kaum, dass ihre Füße den Boden berührt hatten, gab er ihre Hand frei. Wie immer, dachte Bonnie und seufzte leise. Sie wusste nicht, ob Mr. Northwood ihr Wissen um die Wahrheit erahnte oder ob es bloß Vorsicht war, die ihn jegliche Berührungen vermeiden ließ. Sie verstand seine Umsicht und schätzte sie sogar, doch sie war nicht ansteckend und fand sein übertrieben vorsichtiges Verhalten bei weitem verdächtiger.
Zu Beginn hatte sie nicht vorgehabt, ihn lange im Dunkeln zu lassen. Vielleicht ein, zwei Wochen, in denen sie ihm das Geheimnis zurückzahlen konnte; danach hatte der Plan jedoch vorgesehen, ihm alles zu gestehen. Bonnie hatte ein vernünftiges Gespräch mit ihm führen wollen, in dem sie ihre weitere Vorgehensweise klärten. Der kleine Ort und das gemütliche Cottage waren ihr ans Herz gewachsen, sodass sie ihn bitten hatte wollen, das Geheimnis aufrechtzuerhalten. Es genügte, dass sie beide um die Wahrheit wussten; der Rest des Ortes konnte genauso gut im Dunkeln über die fehlende Verwandschaft zwischen Bonnie und Nathan bleiben. Es würde nichts ändern. Zumindest redete sie sich das ein - insgeheim wusste sie, dass das Zusammenleben nicht so unbeschwert und unkompliziert bliebe, wenn sie alle Karten auf den Tisch legten. Womöglich hatte sie deshalb den Moment der Wahrheit herausgezögert."Bonnie!"
Eilig folgte sie ihrem Gastgeber ins Innere des Hauses und schüttelte die gröbsten Flocken aus ihrem weißblonden Haar, während er sie verblüfft musterte.
"Geht es dir gut? Du wirkst heute so abwesend", sagte er, seine eigenen Mantel an Bridgit übergebend.
Ich habe wirklich ein Talent dafür, mich in vertrackte Situationen zu bringen, fiel ihr auf. Nach außen hin setzte sie jedoch ihr bestes Lächeln auf und nickte.
"Es war nur etwas viel in letzter Zeit. Marissa meint es gut, aber die Feiertage scheinen sie wieder einmal zu täglichen Besuchen zu ermutigen, auf die ich verzichten könnte."
Nathan runzelte die Stirn. "Du weißt, dass ein Wort genügt und -"
"- du sprichst mit ihr darüber." Bonnie grinste ihn an und diesmal meinte sie es ehrlich. Ihr Gastgeber machte sich in vielen Bereichen Sorgen, die nicht immer notwendig waren. "Danke, Nathan, aber ich bin in der Lage es ihr selbst zu sagen. Zurzeit habe ich meine Schmerzgrenze noch nicht erreicht, aber sollte es jemals der Fall sein, so wird sie es aus meinem Mund erfahren."
"Dann hoffe ich für dich, dass du im Angesicht der Naturgewalt Miss Staffords nicht die Sprache verlierst, wenn es soweit ist."
Bridgit warf dem Hausherren einen Seitenblick zu, der deutlich ihre Meinung zum Ausdruck brachte. "Jemand mit Ihren sozialen Fertigkeiten sollte keine Ratschläge an ein gesellschaftstaugliches Mädchen wie Miss Reading erteilen, finden Sie nicht auch?"
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Dorfgeflüster
Romance1811 in England, Maplehill. Eine junge Frau aus London muss vor den bösartigen Gerüchten der Städter in ein kleines Dorf fliehen. Dort wartet scheinbar gar nichts auf Bonnie Reading außer Unmengen an Natur, Stille und langatmigen Teekränzchen. Ein V...