Kapitel 19 - Mr. Northwoods Dilemma

896 74 12
                                    

Im Vorraum wurde es still, während alle darauf warteten, dass Henry weitersprach. In Marissas Vorstellung überschlugen sich bereits die skandalösen Situationen, in die ihr Bruder sich wieder einmal gebracht haben könnte. Im Stillen bat sie darum, dass er nichts mit Miss Roberts angefangen haben mochte. Marissa kannte ihren Bruder und die unpassende Stellung der naiven Schneiderstochter würde ihn nicht davon abhalten einen schrecklichen Fehler mit ihr zu begehen. So lieb sie ihren Bruder auch hatte - sie würde nicht zusehen wie er eine schwangere Evelyn Roberts aus Pflichtbewusstsein zur Frau nahm.

Die Wahrheit war bei weitem angenehmer, doch glücklich stimmte sie Marissa trotz allem nicht. Wieder einmal hatte ihr Bruder es geschafft mit ihren Hoffnungen zu spielen und ihre Pläne zu durchkreuzen. Mit einem möglichst gefassten Gesichtsausdruck drehte sie den Kopf, um Ms. Readings Reaktion zu beobachten. Enttäuscht stellte sie fest, dass diese durch und durch unberührt wirkte. Ganz und gar nicht die Emotion, die sie sich erträumt hatte. Normalerweise war Ms. Stafford niemand, der aufgab, doch in dieser Situation musste sie sich ihre Niederlage eingestehen. Womöglich würde sie am nächsten Morgen Faye Elroy einen Besuch abstatten, um sich daran zu erinnern, dass sie bereits Unmögliches wahr gemacht hatte.

"... und deshalb werde ich gleich morgen bei Sonnenaufgang nach London aufbrechen. Ich hoffe, ich störe keine Pläne", und bei diesen Worten warf er einen schelmischen Blick zu seiner innerlich brodelnden Schwester, "doch ich spiele schon seit geraumer Zeit mit dem Gedanken. Ich gehöre nicht nach Maplehill, egal wie sehr mir die Gesellschaft hier zusagt."

Bonnie wartete einen Moment ab, unsicher wie sie über die Nachricht seiner Abreise denken sollte. Ein wenig enttäuscht war sie; Henry war, abgesehen von seiner emotionalen Überschwänglichkeit, ein angenehmer Gesprächspartner und konnte seine Schwester gut in Schach halten. Andererseits überkam sie eine Welle der Erleichterung, als ihr bewusst wurde, dass Marissa nun keine weiteren Pläne für ihren Bruder und sie schmieden konnte.

"Seien Sie sich gewiss, Ms. Reading, dass ich unsere Gespräche in London außerordentlich vermissen werde. Und Vater, sollte sich deine Gesundheit das kleinste bisschen verschlechtern, dann musst du nach mir schicken lassen. Ich möchte nicht, dass du dich alleine gelassen fühlst."

Mr. Stafford schien zufrieden mit der Fürsorge seines Sohnes. Marissa würde natürlich in Maplehill und seiner Seite bleiben, was sein Gemüt besänftigen dürfte. Bonnie bezweifelte jedoch, dass ihre Freundin besonders erfreut darüber sein würde, alleine in der kleinen Ortschaft zurückzubleiben.

"Wir können in Kontakt bleiben, Mr. Stafford", erinnerte Bonnie den Sohn lächelnd. "London ist nicht aus der Welt und ich bin sehr erfahren darin, Briefe zu schreiben."

Henrys Lächeln wirkte ehrlich als er sich vor ihr verbeugte. "Meine Bewunderung haben Sie bereits, Ms. Reading. Sie wird sich womöglich ins Unendliche steigern, wenn Sie mir noch weitere verborgene Talente offenbaren."

Lachend verschränkte Bonnie die Arme vor der Brust, wie um sich vor den Witzeleien des Stafford-Erben zu schützen. Er schien nicht besonders betrübt darüber zu sein, sie zu verlassen, ungeachtet der großen Worte die er spuckte. Sie hatte gut daran getan, sich ihm gegenüber vorsichtig zu verhalten.

Es wurden noch einige Abschiedsworte ausgetauscht, doch schließlich ließ man die Nachbarn ziehen und Bonnie winkte erschöpft der abfahrenden Kutsche nach. Als sie wieder ins Haus trat, bedachte Mr. Northwood sie mit einem nicht zu deutenden Blick, doch sie war zu müde für weitere Gespräche und ließ sich entschuldigen.

***

Zwei Tage später, Vormittag

Grelles Licht fiel durch die blattlosen Äste der Bäume um sie herum und blendete Bonnie bei jedem Blick nach oben. Automatisch zupfte sie an ihrer Haube, um sich vor der aggressiven Wintersonne und dem schneidenden Wind zu schützen. Kleine Schneeflocken wurden gegen die geröteten Gesichter der vier Wanderer gepeitscht, doch niemand außer Marissa ließ sich davon stören. Ms. Stafford hatte die Lippen zu einem schmalen Strich gepresst und den dicken Schal eng um sich geschlungen als ob sie sich einen schützenden Kokon bauen wollte. Bonnie konnte sich erinnern, dass sie ihre Abneigung gegen Wind und Wetter bereits erwähnt hatte, weshalb sich ein kleines Lächeln auf ihr Gesicht schlich. Es war keine große Herausforderung zu verstehen, weshalb Marissa sie trotz der Witterung begleitete. Mr. Northwood schien ihre Hoffnungen ausnahmesweise einmal zu erfüllen, denn er war unüblich aufmerksam ihr gegenüber. Seit geraumer Zeit ging er vor ihr, um sie vor dem Ärgsten zu schützen und wandte sich regelmäßig nach ihr um.

DorfgeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt