Mit pochendem Herzen machte Bonnie sich auf den Weg in den Raum mit den hohen Bücherregalen und weichen Sofas, um endlich den Mann kennenzulernen, dem das Haus gehörte in dem sie nun schon seit geraumer Zeit lebte. Nathan Northwood, ihr Onkel, von dem sie bloß wusste, dass er allgemein beliebt war und gerne ruhig lebte, wartete hinter diesen Flügeltüren darauf, sie zu treffen und vermutlich, wie es die Leute eben taten, auch zu beurteilen. An all die Briefe denkend, die sie bereits ausgetauscht hatten, versuchte sie sich zusammenzunehmen und das erste Treffen einfach hinter sich zu bringen. Sollten sie sich wider ihrer Erwartungen nicht verstehen, konnten sie sich danach noch immer aus dem Weg gehen.
"Sie sind Zuhause."
Mr. Northwood hatte sich bei Bonnies Eintreten höflicherweise erhoben und deutete nun eine kleine Verbeugung an. Sie knickste seicht.
"Es hat auch lange genug gedauert, findest du nicht auch? Ein toller Gastgeber bin ich, dass ich mich kurz vor der Ankunft meiner Nichte aus dem Staub mache." Er stockte kurz und schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln, als er merkte, dass er sie noch nicht einmal anständig begrüßt hatte. "Es ist schön dich endlich kennenzulernen, Bonnie."
"Es freut mich auch, dass Sie es endlich zurückgeschafft haben. War die Reise mühsam?"
"Nein, keineswegs. Wir waren zügig unterwegs, weshalb ich auch schon früher angekommen bin als erwartet. Bridgit wird mir dafür sicherlich noch eine Standpauke halten, immerhin hatte sie nicht genügend Zeit, um alles für meine Ankunft vorzubereiten."
Als Bonnie Nathan Northwood musterte, kam ihr unwillkürlich der Gedanke, dass sie Miss Staffords Verliebtheit durchaus verstehen konnte. Der Besitzer von Primrose Cottage war stattlich, wenn auch nicht gerade muskulös, bestimmt einen Kopf größer als Marissa und sie selbst, die in etwa gleich groß, oder besser gesagt gleich klein, waren. Seine Proportionen waren ausgewogen, sein Kleidungsstil ordentlich, wenn auch unaufregend, und selbst an seinem Gesicht konnte Bonnie nichts Falsches finden, so sehr sie sich auch bemühte. Vielleicht war seine Nase etwas zu lang oder sein Kiefer etwas zu markant, aber alles in allem fügten sich Mr. Northwoods Züge zu dem vollkommenen Abbild eines begehrenswerten jungen Mannes zusammen. Marissa Stafford würde an seiner Seite glänzen.
Verlegen räusperte sie sich, als sie merkte, dass er auf eine Antwort wartete. "Ob Bridgit wohl denkt, dass man Sie noch umerziehen kann?"
Der Hausbesitzer lachte unbeschwert auf und ließ sich auf eines der Sofas sinken. "Sie ist ein Segen, aber man sollte sich davor hüten die Hausregeln zu brechen. Es ist ein Fehler anzunehmen, dass ich die Kontrolle darüber hätte."
Beide versanken kurz in Stille und ließen die ungewohnte Situation auf sich wirken. Mr. Northwood und sie, zusammen in einem Raum. Sie war überrascht wie unbeschwert sie sich mit ihm unterhalten konnte; durch seine Briefe hatte sie sich ein besseres Bild von ihm machen können als sie gedacht hatte und nun fühlte es sich nicht so an, als würden sie zum ersten Mal miteinander sprechen. Bonnie war das ganz recht, denn mit einem praktisch Fremden im selben Haus zu wohnen wäre eine seltsame Angelegenheit geworden.
"Ich hoffe du bist wohlauf?"
Bonnie beeilte sich ihm das zu versichern und die passende Gegenfrage zu stellen; so plätscherte das Gespräch eine Weile lang ruhig vor sich hin. Zwischendurch brachte Bridgit Tee und Biscuits und schalt den Hausherren so respektvoll wie sie es vermochte für seine plötzliche Anreise.
Sie mussten bestimmt mehrere Stunden im Gespräch verbracht haben, denn als Bridgit das nächste Mal hereinkam, wollte sie den Herrschaften nur noch vorschlagen bald zu Bett zu gehen. Bonnie bemerke amüsiert, dass die Haushälterin einen recht familiären Tonfall mit Mr. Northwood anschlug und als sie das Alter der beiden grob überschlug, ergab die Dynamik durchaus Sinn. Bridgit hatte den Hausherren bestimmt aufwachsen sehen als Haushälterin auf Primrose Cottage.
Als Nathan Bonnie noch zu ihrem Zimmer begleitete, kamen sie auf die Staffords zu sprechen, von denen er nur Gutes zu berichten wusste. Der Vater, den Bonnie noch gar nicht kennengelernt hatte, sei ein freundlicher Mann, der sich aufgrund seines schwachen Herzens jedoch nicht mehr wirklich in Gesellschaft begab. Die Mutter war laut Mr. Northwood die einzige Tochter aus einem landadeligen Haus, die zu Beginn Schwierigkeiten damit gehabt hatte sich mit der begrenzten Gesellschaft in Maplehill abzufinden, mittlerweile jedoch gerne hier wohnte.
"Von ihr hat Marissa auch die Tendenz dazu, Menschen nach ihrem Vermögen und ihrem Stand zu beurteilen, fürchte ich", sagte er mit leichtem Bedauern in der Stimme. "Sie meint es dabei gar nicht böse, sie wurde einfach so erzogen. Es ist immer schwer, alte Denkweisen abzulegen."
Für Sie würde sie es bestimmt versuchen, hätte Bonnie beinahe gesagt, verkniff es sich dann im letzten Augenblick aber doch noch. Sie mochte sich Mr. Northwood in diesem Moment sehr verbunden fühlen, aber das war noch lange kein Grund für sie, Geheimnisse ihrer Freundin auszuplaudern. Bevor sie auch nur einen einzigen Mucks darüber verlauten ließ, musste sie von Marissa erfahren, wie viel ihr Onkel bereits von den Absichten der Nachbarin wusste.
"So etwas in der Art hat auch Miss Roberts angedeutet, als ich sie zusammen mit Miss Stafford zu einem Abendessen eingeladen habe", meinte Bonnie nachdenklich, bevor ihr auffiel, dass sie das noch gar nicht erwähnt hatte. "Oh, ich hoffe das stört Sie nicht? Wir können auch alles absagen, oder verschieben, oder ..."
"Mach dir wegen mir keine Gedanken, Bonnie. Ich bin bloß froh darüber, dass du dich bereits so gut eingelebt hast. Von mir aus könnten jeden Abend Freunde von dir kommen." Als der letzte Satz heraus war, schien Mr. Northwood es sich jedoch noch einmal zu überlegen. "Nun gut, vielleicht nicht jeden Abend. Sagen wir jeden zweiten", fügte er nach einer kurzen Bedenkzeit halbernst hinzu.
Bonnie lachte leise über die Korrektur, denn sie hatte auch nichts gegen einen ruhigen Abend hin und wieder einzuwenden. Womöglich würde Mr. Northwood Ankunft den endlosen Besuchen Marissas endlich Einhalt gebieten können.
Die beiden waren vor Bonnies Zimmertür stehen geblieben und lächelten sich in stillem Einvernehmen an. Beide waren erleichtert darüber, dass man sich auch in Person so gut verstand.
"Ich muss gestehen ich war etwas nervös Sie kennenzulernen", merkte Bonnie mit zuckenden Mundwinkeln an. "Zu meiner großen Freude sind Sie jedoch weitaus weniger furchteinflößend als ich befürchtet habe."
"Furchteinflößend", wiederholte Nathan erstaunt.
"Naja, immerhin hört Miss Stafford auf sie, das hat mir Sorgen gemacht."
"Dann verstehe ich ihren Gedankengang vollkommen", erklärte er lachend, sodass die Kerze in seiner Hand bebte.
"Gute Nacht, Bonnie. Und morgen könntest du mir die Freude machen mich nicht mehr zu Siezen, das machen die wenigsten meiner Freunde. Vielleicht sind wir deshalb Hinterwäldler in Maplehill, aber ich fürchte du gehörst nun auch zu uns und solltest dich anpassen."Mr. Northwoods Bitte wog schwerer als ihr Vorsatz keine gesellschaftlichen Risiken mehr einzugehen und so nickte Bonnie ihm geschlagen zu.
"Wenn du es so möchtest."
Sie schlüpfte in ihr dunkles Zimmer und wünschte ihm noch eine gute Nacht, bevor sie die Tür schloss und sich auf ihr Bett sinken ließ. Draußen hörte sie, wie sich Nathans Schritte entfernten bis er seine eigene Türe am anderen Ende des Ganges öffnete. Das Knarzen der Scharniere war das letzte, das Bonnie hörte, danach legte sich die übliche Stille über das Cottage, die kam, wenn alle zu Bett gegangen waren und auch die Bediensteten nicht mehr arbeiteten. Erst jetzt, als sich ihre Nervosität vollständig legte, setzte die Erschöpfung ein und Bonnie tauschte das neue Kleid gegen ihr Nachthemd ein, bevor sie in das kalte Bett schlüpfte und die Augen schloss. Während die Müdigkeit sie langsam übermannte, ließ sie den Abend noch einmal Revue passieren und bemerkte, dass sie zumindest äußerlich gar keine Ähnlichkeit zwischen Mr. Northwood und seinem Bruder finden konnte. Etwas an dem plötzlichen Auftauchen eines entfremdeten Onkels kam ihr definitiv merkwürdig vor, auch wenn sie nicht genau den Finger darauf legen konnte, was sie daran störte. Sollte sich ein Verwandter, den man gar nicht kannte, denn überhaupt wie ein Verwandter anfühlen? Oder steigerte sie sich gerade in eine aberwitzige Theorie hinein? Vielleicht sollte ich Bridgit noch einmal zu der Familiengeschichte von Mr. Northwood ausfragen, schoss es ihr durch den Kopf, bevor sie einschlief.
DU LIEST GERADE
Dorfgeflüster
Romance1811 in England, Maplehill. Eine junge Frau aus London muss vor den bösartigen Gerüchten der Städter in ein kleines Dorf fliehen. Dort wartet scheinbar gar nichts auf Bonnie Reading außer Unmengen an Natur, Stille und langatmigen Teekränzchen. Ein V...