Kapitel 3 - Maplehill

1.2K 98 5
                                    

Nachdem sich Mrs. Herman entschuldigt hatte, um selbst noch einige Besorgungen zu erledigen, bat Bonnie ihre Haushälterin um eine Wegbeschreibung in die Dorfmitte. Bridgit half ihr bereitwillig, aber warnte sie inständig davor, zu viel zu erwarten. Sie trug Sorge, dass ihr Gast aus London von den beschränkten Möglichkeiten in ihrem kleinen Ort enttäuscht sein würde und das war das allerletzte was die Haushälterin wollte. Sie hatte Mr. Northwood fest versprochen, dass sie alles in ihrer Macht stehende tun würde, um der jungen Frau einen angenehmen Aufenthalt in Primrose Cottage zu bieten. Sie wusste zwar nicht im Detail was in der Stadt vorgefallen war, doch die Art, wie Mr. Northwood darüber sprach - oder wohl eher, wie er es nicht tat - verriet ihr bereits einiges. Wenn die Umstände einer Dame aus vornehmer Familie totgeschwiegen wurden, dann lag es nicht selten daran, dass ihr Ruf Schaden genommen hatte und wie könnte es anders sein, als dass in diese Vorfälle zumeist junge Männer verwickelt waren. Bridgit hatte in ihren 28 Jahren in Maplehill noch nichts geheimnisvolleres als Miss Readings Vergangenheit erlebt, was natürlich nicht hieß, dass sie mit ihren Freunden ungeniert mitzog, wenn diese über die Ankunft ihres Hausgastes tuschelten, denn ihr Anstand verbot es ihr. Sie mochte das Mädchen, selbst wenn sie sich noch nicht lange kannten, denn der Besuch gab Mr. Northwood einen Grund sich wieder mehr in der Gesellschaft zu bewegen. Es war nicht so, als wäre der Hausherr nicht überall eingeladen und gern gesehen; dafür sorgten sein freundliches Naturell und die vertrauenswürdige Art zur Genüge. Doch er neigte dazu, sich mit seinen Büchern einzuschließen und tagelang nur das gebrachte Essen zu sich zu nehmen, ohne Interesse an der Außenwelt zu zeigen.

Bridgit konnte daher etwas Erleichterung darüber, dass die junge Frau ausgehen wollte, nicht verbergen. Sie würde einen guten Einfluss darstellen, da war sie sich sicher. Bonnie, der der Enthusiasmus der Bediensteten nicht weiter seltsam vorkam, ließ sich noch ein zweites Mal den Weg beschreiben, bevor sie es wagte mit gefütterten Handschuhen und ihrem dicken Reisemantel aufzubrechen.

Der Marktplatz von Maplehill war tatsächlich nicht viel mehr als ein gepflastertes Oval, das durch die ältesten Gebäude des Dorfes begrenzt wurde. In der Mitte gab es einen umfangreichen Brunnen, um den herum bei besserem Wetter auch ab und an Händler ihre Stände aufbauten, doch heute war es zu kalt, um mit viel Kundschaft zu rechnen, und kein einziger Fußgänger kam Bonnie auf ihrem Weg zu einem der altmodischen Bauwerke entgegen. Die Schneiderei der Roberts war nicht schwer zu finden, denn der Familienname prangte in steinernen Buchstaben über dem Eingang. Beim Eintreten stellte Bonnie erleichtert fest, dass es im Verkaufsraum wohlig warm war und sie sich von den frostigen Temperaturen draußen etwas erholen konnte.

"Guten Tag, Miss, kann ich weiterhelfen?"

Bonnie warf einen Blick auf die Stoffe, die auf einem Präsentiertisch ausgebreitet waren und nickte nachdenklich.

"Das hoffe ich. Man hat mir gesagt, dass ich mir hier ein neues Kleid anfertigen lassen könnte", erklärte sie dem in die Jahre gekommenen Mann, der wohl Mr. Roberts sein musste.

Freundlich strahlte er sie an und versicherte ihr, am richtigen Ort zu sein. Während er seine Frau, die Schneiderin, holen ging, begann Bonnie sich etwas umzusehen. Es war kein beeindruckender Laden, eher klein und nur durch das Ausstellfenster kam Licht in die Verkaufsstube, die ganz offensichtlich bereits in die Jahre gekommen war. Dennoch strahlte die Einrichtung und sorgfältige Aufbreitung der Stoffe eine Liebe zum Detail und zur Sorgfalt aus, die der jungen Frau gut gefielen. Nur überraschte sie es ein wenig, dass Mr. Roberts und ihr Onkel gute Freunde sein sollten, immerhin müssten sie sich nach Bonnies Wissen in ganz anderen Kreisen bewegen. Gerade als sie zu dem Schluss kam, dass es am Land womöglich nicht gar so streng beobachtet wurde, wer mit wem etwas zu tun hatte - und hier lag sie natürlich falsch, wie sie später bemerken sollte - oder damit, dass Mr. Northwood es mit solchen Schicklichkeiten nicht so genau nahm, kehrte Mr. Roberts mit einer gut aussehenden Frau in ihren Vierzigern zurück, die er stolz als Mrs. Roberts vorstellte.

"Es freut mich Ihre Bekanntschaft zu machen, Mr. und Mrs. Roberts. Bridgit hat mir erzählt, dass sie meinen Onkel gut kennen."

Das Ehepaar warf sich einen erstaunten Blick zu, bevor Mrs. Roberts fragte: "Verzeihen Sie, könnten Sie Mr. Northwoods Nichte sein?"

Bonnie bejahte die Frage, woraufhin sich die Atmosphäre im Laden etwas zu ändern begann. An die Stelle warmherziger Professionalität der beiden trat nun ein ganz und gar persönliches Interesse für den Neuankömmling, der im Hause ihres Freundes wohnte.

"Bestimmt hat ganz Maplehill ihre Ankunft mit angehaltenem Atem erwartet", scherzte Mr. Roberts. "Mr. Northwood hat anfangs ein großes Geheimnis darum gemacht, wer Sie sind, aber eine junge Städterin! Natürlich sorgt so etwas für Aufruhr hier. Wir wussten gar nicht, dass er eine Nichte hat."

"Wir hatten bisher leider keinen Kontakt", gab Bonnie zu, der die ungeteilte Aufmerksamkeit beinahe schon unangenehm war. Hoffentlich irrten sie sich, denn falls sie schon jetzt das Stadtgespräch wäre, hätte sie auch gleich in London bleiben können. "Aber mein Vater schlug vor, dass ich ihn besuchen komme - bis dahin wusste ich selbst nicht, dass ich einen Onkel in Maplehill habe. Ist er recht alleine hier draußen?"

Mrs. Roberts seufzte und faltete die Hände vor ihrem beachtlichen Bauch. "Es scheint fast, er will es nicht anders. Aber Sie werden bestimmt gut mit ihm auskommen, er ist keineswegs schlechte Gesellschaft."

"Nur ein wenig eigenbrödlerisch", fügte ihr Mann lachend hinzu und Bonnie stimmte vorsichtig mit ein. Die Erzählungen der Ladenbesitzer deckte sich mit den Meinungen ihrer Haushälterin, was ihr einiges an Anspannung nahm.

"Ich werde ihm zweifellos so manchen Charakterfehler dafür verzeihen, dass er eine entfremdete Verwandte ohne zu Zögern aufgenommen hat."

Lächelnd nahm Mrs. Roberts Bonnies Hand und drückte sie. "Es macht ihm keine Umstände; er sieht es als Ehrensache an, Ihnen sein Haus anzubieten, während Sie in Maplehill sind. Genießen Sie also unbeschwert die großartige Landschaft, wenn es heute auch ein wenig zu kalt dafür ist, und bieten Sie ihm dafür bloß ein wenig Gesellschaft."

DorfgeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt