Kapitel 4 - Miss Marissa Stafford

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Der Nebel war bereits verschwunden, als Miss Reading das Geschäft wieder verließ, doch die Herbstsonne ließ sich durch die dicke Wolkendecke weiterhin bloß erahnen. Mrs. Roberts hatte während ihrem gemütlichen Gespräch mit einer heißen Tasse Tee ihren jungen Gast der Länge und Breite nach abgemessen und anschließend hatte Bonnie sich den weichen Stoff ausgesucht, aus dem ihr neues Ausgehkleid schon bald entstehen würde. Einen Moment lang hatte sie überlegt den dunkelblauen Stoff zu nehmen, hatte sich dann jedoch an ihre neuen Vorsätze erinnert und ein modisches Muster aus blassen, weinroten Streifen auf cremefarbenem Untergrund ausgesucht. Als sie dann zufällig auf eine Uhr gesehen hatte, war ihr Herz beinahe stehen geblieben; sie hatte den gesamten Vormittag in der Stadt verbracht und ließ Bridgit nun mit dem vermutlich bereits erkalteten Mittagessen auf ihre Heimkehr warten. Die Roberts waren so freundlich zu ihr gewesen, dass sie gar nicht gehen hatte wollen, denn es war schon lange her, dass sie ohne Vorurteile und schiefe Blicke in einem Haus empfangen worden war - wenn man von Primrose Cottage einmal absah. Der Händler hatte sogar angeboten, ihr den kostspieligen Stoff zum Anlass ihrer Ankunft in Maplehill zu schenken, doch das hatte sie vehement abgelehnt und die beiden stattdessen eingeladen, sie auf dem Anwesen ihres Onkels zu besuchen. Wenn sie auch nicht so wohlhabend wie ihr Onkel war, hatte Bonnie mehr als genug, um sich durchzubringen und sah daher keinen Grund den Dienst einer beruflichen Schneiderin nicht anständig zu bezahlen.

Der Rückweg schien ein wenig länger, als der Hinweg am Morgen, doch das lag vermutlich daran, dass sie nun in Eile war. Von Primrose Cottage bis zum Marktplatz waren es bestimmt nicht mehr als zehn Minuten und wenn Bonnie es auch von London her nicht gewohnt war weite Strecken über erdige Feldwege zurückzulegen, so fand sie es nicht weiter schlimm. Auf jeden Fall wollte sie sich nicht wie eine verzogene Göre aufführen und für den kurzen Weg nach Pferden oder gar einer Kutsche schicken, einmal abgesehen davon, dass sie überhaupt nicht anständig zum Reiten gekleidet war.

Ihre Ankunft verlief wie erwartet. Die Haushälterin kam ihr schon in der Eingangshalle entgegen, die Augenbrauen leicht besorgt zusammengezogen, und nahm ihr geschwind den feuchten Mantel ab, bevor sie sich nach dem Verbleib ihres Gastes erkundigte. Erst als Bonnie ihr eingehend versichert hatte, dass sie sich nicht verlaufen hatte und auch sonst alles zu ihrer Zufriedenheit verlaufen war, ließ Bridgit die Verspätung fallen.

Doch sie sollte noch eine Überraschung bereithalten. "Sie haben Besuch, Miss. Ich habe Miss Stafford in den Salon begleitet, aber sie wartet schon über eine halbe Stunde und ich fürchte ..."

Erschrocken sah Bonnie die Angestellte an. Wer wartete denn schon eine halbe Stunde lang wegen eines Höflichkeitsbesuches? "Bringen Sie mich bitte zu ihr, Bridgit. Ist sie eine Nachbarin?"

Die ältere Frau nickte. "In der Tat, Miss. Bei ihrer Ankunft sind sie bestimmt an dem prächtigen Anwesen vorbeigekommen, das man manchmal von hier aus durch die Bäume lugen sieht. Das ist Stafford Hall, der alte Mr. Stafford hat es selbst erbauen lassen, als die Familie hergezogen ist. Er und Mr. Northwood spielen manchmal Karten zusammen."

Mit einem unzufriedenen Blick in den Spiegel zupfte Bonnie etwas an den weißblonden Strähnen herum, die sich durch den Wind aus ihrem Dutt gelöst hatten. Presentabel oder nicht, es war höchste Zeit Miss Stafford nicht mehr warten zu lassen, daher nestelte sie nicht mehr lange an ihrer Frisur herum, sondern folgte Bridgit in den Salon. Die altmodisch verzierten Holzflügeltüren schwangen mit einem leisen Ächzen auf und gaben den Blick auf eine junge Frau mit seidigem, rotblonden Haar frei, die es sich auf einem der Sofas bequem gemacht hatte.

"Miss Bonnie Reading, nehme ich an?", sagte sie mit einem höflichen Lächeln und stand auf. "Marissa Stafford - wir sind Nachbarn. Ich bin hocherfreut Sie endlich zu treffen, vielleicht hat Ihr Onkel mich bereits in einem seiner Briefe an Sie erwähnt? Sie glauben ja gar nicht wie einsam es in Maplehill manchmal wird, wenn man unter dreißig ist."

Bonnie begegnete ihrer enthusiastischen Begrüßung mit einem offenen Lächeln. Miss Stafford schien nicht die Sorte Mensch zu sein, die grundlos mit ihren Meinungen hinter dem Berg hielt, aber das war ihr bei weitem lieber, als die künstliche, aufgesetzte Liebenswürdigkeit, mit der sie es in London größtenteils zu tun gehabt hatte.

"Ich muss gestehen, dass ich noch niemals in einem so winzigen Ort gewesen bin", erwiderte Bonnie, deren Blick an dem leuchtenden Meerblau von Marissas Augen hängen blieb. Ihr entging nicht, dass ihre neue Bekanntschaft mit natürlicher Schönheit gesegnet war, noch dazu schien sie mindestens so vermögend wie sie selbst zu sein; wenn es in diesem Ort ledige Männer gab, dann würde Marissa Stafford sicherlich zwischen ihnen wählen können. "Aber es gefällt mir bisher durchaus hier zu sein. Allein die Luft -"

"Muss eine wahre Wohltat für Londoner Lungen sein!", beendete Miss Stafford den Satz ihrer Gastgeberin grinsend. "Mein Besuch in der Großstadt hat nur zwei Wochen gedauert, aber ich werde niemals den Gestank vergessen."

"Man gewöhnt sich daran, so traurig das klingt. Außerdem wäre es doch unglaublich überlaufen in der Stadt, wenn sie nicht auch ihre schlechten Seiten hätte."

Die beiden Frauen unterhielten sich eine Weile über London und den großen Unterschied zu Maplehill, während sie den Tee tranken, den Bridgit hereinbrachte. Bonnie meinte bald nur noch aus Tee zu bestehen, so viele Tassen hatte sie heute schon gehabt, aber aus reiner Höflichkeit nippte sie trotzdem daran.

"Es ist schön, dass wir uns gut verstehen", meinte Miss Stafford auf einmal und lächelte Bonnie verschmitzt an, "Denn wir werden uns oft sehen, wenn Sie hier bleiben. Ich hoffe doch Sie planen einen ausgedehnten Aufenthalt in Maplehill?"

"Meine Abreise steht noch nicht fest", gab Bonnie zurück ohne weiter auf die Umstände einzugehen. "Ihre Familie steht Mr. Northwood wohl nahe?"

Das Lächeln wich nicht aus ihrem Gesicht, als sie sich zu ihrem Gegenüber lehnte und die Stimme senkte, als ob sie etwas Skandalöses zu sagen hatte. "Das mag stimmen, mein Vater und Mr. Northwood verstehen sich schon beinahe verdächtig gut. Wer weiß was die beiden bei einer Flasche Whiskey und ihren Karten so alles besprechen. Aber, wenn ich Ihnen das anvertrauen darf, ich hoffe ihm in Bälde nicht mehr nur eine Freundin zu sein."

Natürlich verstand Bonnie, was ihr Gast andeuten wollte, und überlegte, ob in irgendeinem der Briefe angedeutet wurde, dass ihr Onkel sich verloben wollte. Soweit sie sich erinnern konnte, war dem nicht so, doch nur ein Blick auf Miss Stafford versicherte ihr, das es ein Leichtes werden würde Mr. Northwood von ihren Qualitäten zu überzeugen. Nachdenklich strich sie sich eine Strähne hinters Ohr.

"Sie würden meine Tante werden", überlegte sie schließlich laut und die beiden Mädchen wechselten einen befremdeten Blick, bevor sie loslachten. Nach einer Weile fügte Bonnie jedoch nachdenklich hinzu: "Verzeihen Sie meine Frage, aber ist er Ihnen denn nicht ein wenig zu alt?"

Ihre Frage traf auf bodenlose Verständnislosigkeit von Miss Staffords Seite. "Er ist kaum zehn Jahre älter als ich, Miss Reading. Ich werde 22 dieses Jahr."



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