Kapitel 6 - Mister Henry Stafford

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Obwohl Bonnie sich den ganzen Abend den Kopf darüber zerbrochen hatte, ob sie ihrer neuen Bekannten von Bridgits Befürchtung erzählen sollte, kam sie zu keinem Schluss.
Einmal davon abgesehen, dass es Miss Stafford womöglich hart treffen würde davon zu hören, wollte Bonnie nicht die Überbringerin solcher unbequemen Neuigkeiten sein.
Aber sollte sie sich dazu entscheiden Marissa im Dunkeln zu lassen, dann würde diese womöglich noch mehr Zeit auf Mr. Northwood verschwenden, der, laut Bridgit, gar kein Interesse an ihr hatte. Außerdem könnte es - falls Miss Stafford entdecken sollte, dass Bonnie schon seit langem über die Gleichgültigkeit ihres Onkels Bescheid wusste - zu einer unschönen Szene zwischen den Mädchen kommen, die überhaupt nicht zu Bonnies friedlichem Neubeginn passte.

Doch als der nächste Tag anbrach und sie noch immer zu keinem Beschluss darüber gekommen war, erinnerte sie sich daran, dass es bloß eine Meinung der Haushälterin war und es gut möglich war, dass diese ihren Hausherren gar nicht so gut kannte, wie sie es sich einbildete. Fürs Erste würde Bonnie also kein Wort darüber verlauten lassen, was sie gehört hatte. Stattdessen, so dachte sie mit einer gewissen Vorfreude, würde sie alles in ihrer Macht stehende tun, um ihren Onkel doch noch von Miss Stafford zu überzeugen.

***

Marissa Stafford widmete sich an diesem Tag hingebungsvoll der Vorbereitung des Tees, den sie mit ihrer neuen Nachbarin vereinbart hatte. Den gesamten Vormittag über fielen ihr Kleinigkeiten ein, die noch besorgt werden wollten; wenn das Personal von Stafford Hall eines fürchtete, dann war es die Planungswut der jüngsten und letzten im Familiensitz verbleibenden Tochter der Staffords. Während man für gewöhnlich versuchte ihr vor größeren Gesellschaften aus dem Weg zu gehen und die Besorgungen still und unauffällig zu erledigen, bemühte sie sich stets die Vorbereitungen mit Argusaugen zu überwachen und jeden Handgriff zu beurteilen. Wenn ihr etwas nicht passte, dann drückte sie es laut und deutlich aus. Wenn ihr der Stress zu viel wurde, hob sie ihre Stimme auch recht undamenhaft an - natürlich verließ niemals ein Wort darüber die Lippen der Bediensteten, denn wenn Miss Stafford auch eine herrische Natur besaß, so war ihnen ihre angenehme Stellung auf Stafford Hall zu wichtig, um schlecht über die Tochter zu sprechen.

Als letzte Vorbereitung schickte diese Briefe an einige Freunde und Bekannte los, die Miss Reading unbedingt kennenlernen sollte. Mehr oder weniger absichtlich vergaß sie jedoch, den Ehrengast selbst über die anderen Eingeladenen aufzuklären.

***

Pünktlich um vier Uhr stieg Bonnie aus der kleinen Kutsche, die Bridgit ihr dieses Mal aufgedrängt hatte, und warf einen ausgiebigen Blick auf das Anwesen der Staffords. Sie konnte nicht anders als zuzugeben, dass es um einiges beeindruckender aussah, als Primrose Cottage. Zwei weiß getünchte Türmchen ragten über das dreistöckige Herrenhaus vor ihr, welches selbst von außen makellos in Stand gehalten wurde, und verliehen dem Anwesen beinahe etwas Schlossartiges. Im Gegensatz zu dem Cottage, in dem sie sich sofort heimisch gefühlt hatte, strahlte Stafford Hall eine kühle Eleganz aus, die ihr nicht weniger gut gefiel. Mr. Stafford musste ein Mann von gutem Geschmack sein - oder vielleicht war seine Frau dafür verantwortlich?

"Miss Reading! Kommen Sie doch herein", rief ihr auf einmal eine bekannte Stimmte zu und Bonnie suchte ihren Ursprung. Lächelnd grüßte sie Miss Stafford, als sie sie entdeckt hatte, und beeilte sich ins Innere zu kommen.
"Einfach durch zum Garten", sie hieß ihrem Gast zu folgen, "Wir haben beschlossen das gute Wetter auszunutzen. Ist es nicht herrlich?"

Von dem gestrigen Schlechtwetter war heute tatsächlich nichts mehr zu merken und Bonnie war durchaus froh darüber, ein wenig Zeit in der Sonne verbringen zu können. Eine Sache ließ sie jedoch aufhorchen.

"Entschuldigen Sie, aber ... Wir ?"

Verschmitzt lächelnd wandte sich die Tochter der Staffords im Gehen um. "Oh, beinahe hätte ich es vergessen zu erwähnen: Wir haben mehr Gesellschaft als ursprünglich geplant. Ich dachte mir, sie würden womöglich gerne die Bekanntschaft einiger interessanter Menschen machen."

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