Kapitel 28 - Tauwetter [Ende]

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Die dicken Regentropfen vor dem Fenster kündigten das Ende der kältesten Zeit des Jahres an, als Bonnie am nächsten Morgen ins Speisezimmer von Stafford Hall trat, um ihr Frühstück mit den Bewohnern einzunehmen. Das Gästezimmer, das man ihr gerichtet hatte, war wunderbar, mit prallen Polstern, dickem Teppich und eleganten Vorhängen, und trotzdem hatte sie sich bereits nach wenigen Stunden zurück nach Primrose Cottage gewünscht. Was hätte sie für ein gemütliches Frühstück mit Nathan gegeben, doch dieser war noch für mindestens zwei Nächte in London und ihre Freundinnen würden sich sicherlich nicht darüber freuen, bloß die zweite Wahl zu sein; daher setzte Bonnie ihr bestes Lächeln auf, als sie sich gegenüber von Marissa und Henry auf einen Stuhl setzte und wünschte allen Anwesenden einen guten Morgen.

Agnes und Henry waren bald darauf in ihre üblichen einseitigen Witzeleien vertieft, während Marissa ganz offen zur Schau stellte, wie zuwider ihr die frühen Morgenstunden waren. Zweifellos war sie nur aufgetaucht, um nichts zu verpassen, eine Sorge die ihre Mutter nicht zu teilen schien. Selbst als beinahe alle aufgegessen hatte, war noch nichts von Mrs. Stafford zu sehen gewesen. Bonnie wünschte sich dasselbe tun zu können, um noch heute nach London aufzubrechen. Nachdem sie beschlossen hatte, Mr. Northwoods Angebot anzunehmen, hatte sie nicht nur kein Auge zubekommen, sie war außerdem von Ungeduld überwältigt worden. Weshalb auf seine Rückkehr warten, wenn sie ihn abpassen konnte? Womöglich auf halbem Wege, wenn sie noch einen Eilbrief schicken würde, wüsste er ...

"Haben Sie gut geschlafen, Ms. Reading? Ist Ihr Zimmer in Ordnung?", erkundigte sich der alte Mr. Stafford freundlich, während er mit Schwung sein drittes Ei köpfte. Etwas von dem wabbligen Eiweiß landete auf der gestärkten Tischdecke und Bonnie bemühte sich nicht hinzusehen.
Stattdessen bedankte sie sich bei dem Hausherren für seine Gastfreundschaft und das großartige Zimmer. Es lag immerhin nicht daran, dass Bonnie aufbrechen wollte.
Sie tauschten einige weitere höfliche Worte aus und sie wurde wieder einmal daran erinnert, dass Mr. Stafford ein guter Freund von Nathan war. Kein Wunder, denn er war freundlich und unkompliziert, genau wie Mr. Northwood selbst, wenn dieser nicht gerade über einer Idee oder einem Problem brütete. Bonnie fragte sich, ob Mr. Stafford sich über ihren Besuch wunderte - oder was er davon denken mochte. Ob Nathan ihm von seinen Plänen bezüglich seines Gastes erzählt hatte?

"Wollen Sie sich noch einmal hinlegen? Sie sehen müde aus, Ms. Reading", sagte Marissas Vater plötzlich mit leichter Besorgnis, doch sein Gast, in ihr weißes Teekleid mit der mintfarbenen Schleife gehüllt, schüttelte vehement den Kopf.

"Ich danke Ihnen für das Angebot, doch ich denke ich werde sie alle verlassen müssen. Wenn ich die Kutsche nehme, bin ich heute noch in London", überlegte sie laut. Bonnie war sich bewusst, dass weder Marissa noch Agnes den Grund ihrer Flucht nicht erraten würden. Die Mundwinkeln der jüngsten Stafford-Tochter zuckten bereits verräterisch, als sie sich noch etwas Schinken auf den Teller häufte.

Mr. Stafford war ganz und gar nicht begeistert. Auch sein Sohn wirkte von ihrer Idee wie vor den Kopf gestoßen. "Nach London? Ganz alleine? Mit Sicherheit ist das nicht Ihr Ernst, Ms. Reading", rief Henry überrascht auf und handelte sich einen warnenden Blick von Agnes ein, die Bonnie nicht an ihren Plänen hindern wollte.

Auch sein Vater protestierte gerade lautstark, als ein Bediensteter hereinkam und Besuch ankündigte. Der ältere Mr. Stafford stockte in seinem Vortrag darüber, weshalb eine junge Frau nicht alleine reisen sollte, und warf Bonnie einen langen Blick zu. Verwirrt erwiderte sie ihn, doch gleich darauf würde sie den Grund dafür erkennen.

Schritte wurden lauter und ein Mann, in dunkles Reisegewand gehüllt, erschien in der Tür des Speisezimmers. Bonnie verschluckte sich beinahe an ihrem Tee, als ihre Blicke sich trafen. Gestern hatte Marissa ausdrücklich gesagt, dass er aus geschäftlichen Gründen noch nicht zurückkehren könnte, doch hier stand er.

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