Die Enthüllungen über Miss Readings Leben in London hätten manche wohl davon abgehalten, weiterhin regen gesellschaftlichen Kontakt zu ihr zu pflegen, doch Marissa Stafford tat wie üblich genau das Gegenteil davon, was die meisten tun würden. Es vergingen zwei Wochen in Maplehill, ohne dass Bonnie auch nur länger als einen Tag lang von ihr getrennt war. Bridgit beobachtete die neue Freundschaft derweil misstrauisch, konnte jedoch nichts erkennen, dass ihr gefährlich vorkam. Sie kannte die Nachbarstochter gut genug, um diesem plötzlichen Anfall von Liebenswürdigkeit nicht gänzlich zu vertrauen; schließlich erklärte sie ihn sich damit, dass Bonnie eine Menge spannender Geschichten aus der Stadt auf Lager haben musste und hörte auf sich zu sorgen.
Bonnie selbst wusste sich so langsam kein interessantes Gesprächsthema mehr mit Miss Stafford zu finden. Durch die ständigen Besuche hatten sie alle grundlegenden Fragen geklärt, jeder Nachbar war bereits ausgiebig besprochen worden und für Tiefgründigeres kannten sie sich noch zu wenig. Deshalb empfand sie es als Erleichterung, als auch Miss Hammond begann, ihren Treffen beizuwohnen. Das hübsche Mädchen sagte zwar nicht viel, doch zumindest entstand in ihrer Anwesenheit nie das unangenehme Gefühl von betretener Stille. Agnes Hammond schien trotz ihres jungen Alters von kaum sechzehn Jahren mit einer inneren Ruhe und Beständigkeit gesegnet zu sein, die sie stets friedlich und im Reinen mit sich wirken ließen. So verbrachte man die Nachmittage meist im Garten auf Primrose Cottage oder Stafford Hall bei Tee und Gebäck, und manchmal kam auch Henry Stafford für einen kurzen Moment vorbei, um mit ihnen die letzten warmen Tage des Jahres zu genießen. Lange blieb er jedoch nie; im Gegensatz zu Agnes schien es ihn furchtbar zu quälen, wenn er länger als fünf Minuten still sitzen musste.
An einem dieser Nachmittage hatte sich Miss Hammond gerade frühzeitig entschuldigt, um noch einige Besorgungen zu erledigen, als Henry an der Gartentür des Cottages auftauchte und seiner Schwester und Miss Reading winkte.
Die beiden brachten ihn kurzerhand dazu, sich zu ihnen zu setzen und nachdem der spontane Besuch mit etwas zu trinken und zu essen versorgt war, begann man ihn über seine ausgesprochen gute Laune zu befragen. Henry behauptete - nachdem er sich etwas bitten hatte lassen -, es würde ihn bloß freuen, dass Mrs. Elroy ihm ihre Pläne für eine Gesellschaft gesteckt hatte."Es sollte viel mehr Gelegenheiten zum Tanzen geben. Finden Sie nicht auch, Miss Reading?", erkundigte er sich, sie aus seinen meerblauen Augen heiter ansehend.
Bonnie erwiderte das Strahlen ihres Gegenübers freundlich, wenn auch mit Zurückhaltung. "Ich hätte bestimmt nichts dagegen ein, zwei Mal die Woche unter die Leute zu kommen. Früher war es mir doch immer ein wenig zu viel mit all den Einladungen und Ausflügen. Wenn man wollte, könnte man in der Stadt bestimmt jeden Abend ausgehen."
Marissa ignorierte den Wink mit dem Zaunpfahl bezüglich ihrer vielen Besuche geflissentlich und stöhnte, mit den Gedanken ganz woanders, auf wie ein angeschossenes Tier. "Was würde ich nur darum geben eine Saison fortfahren zu dürfen! Wenn Vater doch nicht so engstirnig wäre ..."
Ihr Bruder schüttelte bloß den Kopf über sie. Er wusste, dass sich Marissa nichts sehnlicher wünschte, als wieder zu den Zeiten zurückzukehren, in denen sie jedes Frühjahr Zeichenunterricht in London genommen hatte und ihre Freiheit dort aufs Ausgiebigste genießen konnte. Doch nachdem es mit der Gesundheit ihres Vaters steil bergab gegangen war, wollte dieser seine Kinder um sich wissen und mit den zahlreichen Ausflügen Marissas war es plötzlich vorbei gewesen. Obwohl die beiden Stafford-Kinder Mitleid mit dem alten Herren hatten, zog es sie doch fort von Maplehill und der beschränkten Gesellschaft, in der sie hier verkehrten.
"Oh, Henry, hör doch auf mich so anzusehen! Dich lässt er tun und lassen, was du willst. Das ist nicht fair", beschwerte sie sich weiter, ungeachtet ihrer Zuhörerin, die versuchte sich nicht in den geschwisterlichen Zwist einzumischen.
Glücklicherweise dauerte es nie lange, bis Marissa und Henry sich wieder vertrugen oder, besser gesagt, bis sie einen Waffenstillstand ausgehandelt hatten und die Konversation schlug eine gänzlich andere Richtung ein.
"Wenn Mrs. Elroy einen Abend veranstaltet, dann bist du bestimmt herzlich eingeladen", meinte Marissa an Bonnie gewandt, die hoffte, dass es tatsächlich so sein würde. Die Elroys schienen angesehen zu sein in Maplehill und keine Einladung von ihnen zu erhalten, wäre durchaus besorgniserregend. "Was werde ich nur tragen?"
"Ein Kleid, vermute ich", gab Henry trocken zurück. Das Thema war ihm leid; er wollte es auf keinen Fall weiter vertiefen. Er wusste, wenn man seine Schwester dazu anstiftete, dann würde sie noch morgen hier sitzen und über ihr Aussehen bei der nächsten Gesellschaft fantasieren. "Du hast doch genügend."
"Wo ist nur deine gute Laune hin, Bruder? Vielleicht solltest du ein wenig netter zu mir sein." Ein wenig eingeschnappt wandte sie sich an ihre Freundin und ergriff deren Hände. "Wir müssen unbedingt noch darüber reden - wenn die Gesellschaft ein wenig angenehmer ist."
Bonnie sah bereits den nächsten Besuch von Miss Stafford voraus und schickte ein Stoßgebet gen Himmel, dass sie sich zumindest bis zum übernächsten Abend Zeit lassen würde. Ab und an brauchte sie auch ihre Zeit für sich; eine Gemütslage, die ihrer Nachbarin völlig fremd zu sein schien.
"Er meint es sicherlich nicht böse. Nicht wahr, Henry?", versuchte sie ihr Glück damit, einen weiteren Streit zu verhindern und tatsächlich entspannte sich Marissa etwas. Henry entlockte sie mit ihrer Diplomatie sogar ein kleines Lächeln.
"Da magst du recht haben. Trotzdem finde ich eine kleine Bestrafung angebracht ... allein für den frechen Kommentar. Nun muss ich mir etwas ausdenken, wie zum Beispiel...", Marissa legte nachdenklich den Kopf schief, "Oh ja, ich hab's! Henry du musst Miss Reading unbedingt die ersten beiden Tänze versprechen! Ich dulde keinen Widerspruch in dieser Angelegenheit."
Bonnie und Henry sahen sich verdutzt über diesen Einfall an.
"Wo ist denn dabei die Strafe", hakte Henry lachend nach, doch beeilte sich auf den ungeduldigen Blick seiner Schwester hin, zuzustimmen. "Es wäre mir natürlich eine Ehre, wenn Sie die ersten zwei Tänze für mich reservieren würden, Miss Reading."
Lange überlegen musste Bonnie nicht, denn sie hatte keinerlei Grund den Geschwistern diesen Wunsch abzuschlagen. Abgesehen von den häufigen, energieraubenden Besuchen hatte Marissa ihr bisher nur Gutes getan und auch ihr Bruder war bei jedem ihrer Aufeinandertreffen die Freundlichkeit in Person gewesen.
Die Stimmung blieb ausgelassen, bis die Staffords sich bei Einbruch der Dunkelheit verabschiedeten und Bonnie nach drinnen ging, um sich mit Bridgit wegen der kommenden Gesellschaft zu besprechen. Womöglich sollte sie Mrs. Roberts noch einmal um ihre Hilfe bitten, auch wenn ihr dies verschwenderisch vorkam. Doch wofür sonst sollte sie ihre Ersparnisse ausgeben, wenn nicht für Zerstreuungen wie diese, die am Ende des Tages nichts anderes für Bonnie waren als Ablenkungen von Mr. Langfield und London.
***
An diesen Tagen wirkte Maplehill genau so friedlich und beschaulich, wie Bonnie es sich erträumt hatte und sie hoffte inständig, dass sich dies nie ändern würde.
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Dorfgeflüster
Romance1811 in England, Maplehill. Eine junge Frau aus London muss vor den bösartigen Gerüchten der Städter in ein kleines Dorf fliehen. Dort wartet scheinbar gar nichts auf Bonnie Reading außer Unmengen an Natur, Stille und langatmigen Teekränzchen. Ein V...