Kapitel 2 - Ein Neuanfang

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Bonnies erster Morgen in Maplehill erwies sich als einer der kältesten Tage seit langem. Draußen vor ihrem Fenster waberten dicke Nebelschwaden umher und hüllten den herbstlichen Wald in ein unheimliches Licht, das trotz der Nebelschicht stark genug in das Zimmer in Primrose Cottage schien, um sie aufzuwecken. Bonnie streckte sich nicht, sie blinzelte nicht mal. Für einige Sekunden lag sie einfach nur auf ihrem Rücken, genoss die Wärme der dicken Daunendecken und ließ den letzten Tag Revue passieren. Sie war tatsächlich hier, nach allem was geschehen war, hatte sie es aus London hinausgeschafft und einen Moment zum Durchatmen gewonnen. Wie um sich zu vergewissern, dass sie sich die Reise nicht nur eingebildet hatte, griff Bonnie nach der Decke und schlug sie zurück - eine Handlung, die sie schleunigst bereute. Die Kälte, die das alte Gemäuer mit seinen doppelten Fenstern und dicken Wänden begierig aufgesogen hatte, stürzte sich auf jeden Zentimeter nackter Haut unter dem weißen Nachthemd, das in London stets ausgereicht hatte, und sie wünschte sich, dass sie ihr langärmeliges Kleid mitgebracht hätte. Bei genauerer Überlegung jedoch war sie froh es nicht getan zu haben. Sie hatte es getragen, als die Nachricht überbracht worden war, die ihr Leben für immer verändert hatte, und würde sie nur an diese schlimme Nacht erinnern. Wie viel lieber sie etwas fror!
Das Klopfen an ihrer Zimmertür riss Bonnie gerade noch von dem Abgrund fort, den die Erinnerungen an London darstellten. Rasch richtete sie ihr Nachthemd und versuchte die widerwilligsten Strähnen ihres Haares hinter die Ohren zu stecken, bevor sie ihren Gast bat hereinzukommen. Die Haushälterin war bereits hergerichtet im Gegensatz zu ihr, obwohl es draußen erst vor kurzem gedämmert hatte, und schien dennoch etwas überrascht davon, dass ihr Hausgast bereits wach war. Sie wünschte ihr umfangreich einen guten Morgen, entschuldigte sich für die frostigen Temperaturen und versprach sofort alle Kamine anzuheizen, die sie finden konnte, bevor sie mit dem eigentlichen Grund ihres morgendlichen Besuches herausrückte.

"Der Herr ist immer früh auf; offenbar haben sie das mit ihm gemeinsam. Ich bin jedenfalls froh sie nicht geweckt zu haben, es geht um etwas sehr triviales. Ihr Frühstück, Miss, ich wollte es fertig haben, sobald sie aufwachen, doch dann ist mir aufgefallen, dass ich gar nicht weiß was sie denn gerne hätten. Und ich hätte einfach einiges angerichtet, aber Mr. Northwood ist sehr gegen solche Verschwendung, daher dachte ich, vielleicht tun sie es ihm gleich und wachen bei den ersten Sonnenstrahlen auf und ich schaue kurz vorbei. Entschuldigen sie vielmals."

Lachend winkte Bonnie ab und räusperte sich kurz, um die morgendliche Heiserkeit loszuwerden. "Machen Sie sich keinen Kopf, Bridgit, ich bin früh zu Bett gegangen. Die Morgenstund' hat Gold im Mund, sagt man das nicht so?"

Sie erwiderte mein Lächeln warm und nickte.

"Und zum Frühstück reichen mir zwei Eier und Tee vollkommen", verriet die junge Frau ihr noch, die unbekleideten Füße aus dem hölzernen Bett schwingend. Als ihre nackten Fußsohlen das ausgekühlte Parkett trafen, sog sie scharf die Luft ein.

Bridgit wirkte etwas unzufrieden mit ihrer Antwort, weswegen Bonnie fragend innehielt und die Haushälterin zum Sprechen aufforderte.

"Nun, die jungen Leute heutzutage essen so wenig. Das macht mich immer ganz stutzig, ich kann mich noch erinnern wie es war, als Ihr Onkel klein war. Da hat man keinen Krümel herumliegen lassen dürfen, sonst war der im Nu in seinem Magen verschwunden."

Bonnie beschloss nichts darauf zu sagen, da sie keine unverfängliche Antwort geben konnte. Ihr Appetit war seit dem Unfall nicht mehr derselbe, aber sie hatte so das Gefühl, dass sie ihn hier wiederfinden würde. Heute Abend würde sie alles essen, was Bridgit ihr vorsetzte; das nahm sie sich fest vor.

Nachdem das Personal wieder gegangen war, begann sie mit einer Katzenwäsche, die nur durch die eisigen Temperaturen in dem Zimmer gerechtfertigt war. Heute Abend würde sie ein ausgiebiges Bad nehmen, doch fürs Erste reichte ihr die Schüssel kalten Wassers, die die Haushälterin gebracht hatte, aus. Ihr Blick fiel auf das Kleid von gestern, das sie mehr oder weniger ordentlich über den bemalten Paravent gehängt hatte, der ein Eck des Zimmers abteilte, und sie seufzte. Sie mochte schwarze Kleider nicht sonderlich und es gab auch keinen echten Grund für sie Trauerkleidung zu tragen, nicht nach allem was herausgekommen war. Zur Verwunderung aller hatte sie diese jedoch selbst nach allen Enthüllungen nicht abgelegt, sie war wie eine Art Rüstung gegen die bösen Zungen der feinen Leute gewesen. Dieses Kleid symbolisierte für Bonnie alles, was sie ihm gegeben hatte, und er ihr verweigert hatte: Anstand, Ehrlichkeit und Loyalität. Und trotzdem war ihr heute überhaupt nicht danach zumute es anzulegen. Dies ist dein neues Leben, erinnerte sie sich und ihre Mundwinkel hoben sich ein Stück. Es gab tatsächlich keinen Grund mehr in Trauer zu sein. Sie hatte seinem Andenken mehr als Genüge getan, nun galt es für sie weiterzuleben und ihn zu vergessen, denn das war ihrer Meinung nach das, was er verdient hatte.

Wenige Minuten später setzte sich Bonnie in einem cremefarbenen Teekleid an den Esstisch im Erdgeschoss, wo sie, auf ihre Bitte hin, zusammen mit Bridgit Eier und Speck aß und schwarzen Tee trank.
Sie hatten gerade das Frühstück beendet, als es klopfte und die Haushälterin eine ältere Dame von etwa 40 Jahren hereinführte, deren Anblick etwas kurios war. Um den schlanken, faltigen Hals der Frau lagen mehrere dicke Ketten, auch ihre Ohrringe waren enorm und allgemein schien sie schwer an einer Vielzahl von Accessoires jeglicher Art zu tragen.

Automatisch erhob sich Bonnie, um die Fremde zu grüßen.

"Schön Sie kennenzulernen, mein Kind. Ich bin Mrs. Herman, Nathan hat mir versprochen ein paar Zeilen an dich zu richten, in denen er mich vorstellt."

"Das hat er nicht vergessen, Mrs. Herman", beteuerte Bonnie ihrem Gast sofort und bot ihr einen Sessel an. Die ältere Dame lehnte jedoch dankend ab, bis Bridget geistesgegenwärtig vorschlug, die Gesellschaft in den Salon zu verlegen. Bei der Erwähnung des Raumes mit den weichen Polstermöbeln und offenem Kaminfeuer trat ein begeistertes Leuchten in die Augen von Mrs. Herman, sodass Bonnie nicht lange überlegte, ob sie den Vorschlag annehmen sollte. Während die Haushälterin geschäftig in die Küche eilte, um noch mehr Tee aufzukochen, führte Mrs. Hermans Bonnie in den Salon, da diese sich den Weg nicht recht gemerkt hatte.

"Es kommt mir beinahe so vor, als wären sie die Hausherrin und ich der Gast", merkte die jüngere Frau grinsend an, nachdem die beiden im Salon, der auch als Bibliothek genutzt wurde, Platz genommen hatten. Es war ein weitläufiger Raum mit einem großen Kamin und hohen Bücherregalen aus dunklem Holz, die berstend voll waren mit allerlei Kuriosem und Bekanntem. Einige Titel sagten Bonnie, die leidenschaftlich gerne las, etwas, andere waren ihr vollkommen unbekannt. Manche konnte sie nicht einmal lesen, da sie in fremden Sprachen verfasst wurden. Bonnies Italienisch war gut, ihr Latein und ihr Deutsch gerade noch leidlich, aber außerhalb ihrer Ausbildung hatte sie sich nie groß mit Sprachen beschäftigt. Vielleicht lag es aber auch an dem strengen Hauslehrer, den sie nie gemocht hatte, und der ihr strategisch allen Spaß am Lernen genommen hatte.

"Ach, nehmen Sie es nicht falsch auf - ich kenne dieses Haus einfach schon eine lange Zeit. Ich habe schon hier gewohnt, als Ihr Onkel Primrose Cottage gekauft hat, ja, ich kannte sogar den Vorbesitzer noch. Ein netter alter Mann, leider ist er zu früh von uns gegangen."

"Das tut mir sehr leid", sagte Bonnie höflich, hoffte aber, dass sie nicht noch mehr von toten Leuten sprach. Der Tag hatte so gut angefangen.

"Mir auch, Kindchen, aber so ist das Leben. Daher sollte man das Beste aus jedem Tag machen, auch wenn er nicht viel verspricht zu Beginn. Aber was versuche ich Sie zu belehren, das wissen Sie bestimmt. Immerhin haben Sie in Ihrem zarten Alter schon den Weg von London hierher gewagt! Mit achtzehn habe ich noch nicht einmal alleine in den nächsten Ort fahren gewollt", erzählte sie aufgeregt und ein leises Lächeln schlich sich auf ihr kräftig gepudertes Gesicht, als sie sich an damals erinnerte. "Aber genug von mir. Wie leben Sie sich hier ein, gefällt Ihnen das Haus, die Gegend?"

"Es ist sehr schön hier", beeilte Bonnie sich zu sagen, bevor sie ihr weitere Fragen stellen konnte, "Ich bin aber erst gestern Nachmittag angekommen und konnte noch gar nicht aus dem Haus gehen, um mir die Stadt anzusehen. Ich denke das werde ich heute erledigen, einige Einkäufe sind so oder so überfällig."

Die Besucherin gab einige zustimmende Laute von sich und nahm einen Schluck von dem Tee, den Bridgit ihr gebracht hatte.

"Wissen Sie vielleicht wo man hier ein neues Kleid machen lassen kann? Ich bin nicht mit viel gekommen", gab Bonnie zu und nippte an ihrem eigenen Tee.

Verschmitzt lächelnd stellte Mrs. Herman ihre Teetasse auf einem kleinen Seitentischchen ab. "Oh, da habe ich genau die richtige Adresse für Sie. Die Betreiber sind gute Freunde ihres Onkels und sie müssten Kinder in ihrem Alter haben, wenn mich nicht alles täuscht. Ja, ja, Nicholas und Evelyn, richtig. Beides ganz entzückende junge Leute - sie müssen sie unbedingt kennenlernen, wenn sie schon dort sind."

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