Kapitel 8 - Altlasten

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März, sechs Monate vor Maplehill. London.


"Bonnie, was würde ich nur ohne dich tun. Du bist wahrlich meine Lebensretterin", rief Michael Langfield seiner herausgeputzten Begleiterin in gespielt ehrfürchtigem Ton zu, bevor er den eben beinahe vergessenen Hut elegant zurück auf seinen Kopf beförderte. Es folgte eine tiefe Verbeugung und ein schelmisches Aufblitzen seiner dunklen Augen.

"Wann darf ich dich wiedersehen, meine Liebste?"

Bonnie knickste seicht, bevor sie ihm ganz damenhaft ihre behandschuhte Rechte anbot. "Das werden wir sehen."

Der junge Mann dachte nicht daran, sich mit dieser Antwort zufrieden zu geben. Sie an der Hand zu sich ziehend, flüsterte er: "Wenn ich dich nicht so sehr lieben würde, dann kämst du mit solch einer Antwort niemals davon."

Lachend befreite Bonnie sich und versuchte die in ihre Wangen gestiegene Röte zu verstecken, indem sie den Blick auf den Boden senkte.

Die beiden wechselten noch einige verhaltene Bestätigungen ihrer gegenseitigen Gefühle, bevor hinter ihnen klappernd eine Kutsche anhielt. Miss Reading rückte prompt von ihrem Begleiter ab, während dieser instinktiv in die Schatten zurückgewichen war. An seiner Statt kam eine andere junge Frau herbeigeeilt, die sich heftig darum bemühte, außer Atem zu wirken.

"Vergib mir, Bonnie, ich musste meinen vergessenen Handschuh aus dem Theater holen", brachte sie heraus, gerade so laut, dass es der Kutscher mit Sicherheit hören würde. Bonnie nickte gnädig und ergriff die Hand ihrer Anstandsdame.

"Ich bin froh, Martha. Dass du deinen Handschuh wieder hast ist ... toll."

Martha schenkte ihrer Freundin ein breites Lächeln, da sie genau wusste, dass es nicht die Handschuhe waren, wegen denen Bonnie so strahlte.

"Schon gut, aber wir sollten uns beeilen. Deine Mutter wartet bestimmt schon auf deine Rückkehr, du weißt wie sie ist."

Bonnie stimmte Martha natürlich zu und die beiden ließen sich ohne weitere Verzögerungen in die Kutsche helfen. Der Weg nach Hause dauerte nicht lange; ein Umstand, der Bonnie heute überhaupt nicht gelegen kam. Ein Moment wie dieser, wo ihre Freundin und sie ungestört reden konnten, war rar, vor allem wenn das Gesprächsthema so brisant war und unbedingt vor fremden Ohren geschützt werden musste. Bonnie war es durchaus leid, nicht öffentlich über Mr. Langfield und sich sprechen zu dürfen, aber sie verstand, weshalb die Situation es nicht zuließ. Sollte seiner Familie bekannt werden, dass er vorhatte, sich mit der Tochter einer Familie zu verheiraten, die so entschieden unter seinem Niveau war, dann würde er womöglich enterbt werden. Und obwohl es Bonnie nicht einmal besondere Angst einjagte, dass Michaels Vermögen an seinen Bruder übergehen könnte, so wollte sie ihren Verlobten nicht bloß durch ihre Sturheit zu einem Leben ohne Luxus verdammen.

An dem feinen, kleinen Londoner Stadthaus angekommen, das Mr. und Mrs. Reading mit ihren Kindern das ganze Jahr über bewohnten, verabschiedete sich Bonnie von ihrer Freundin und winkte ihr noch eine Weile. Als Martha mit der Kutsche um die nächste Ecke verschwunden war, betrat Bonnie schließlich das Haus und grüßte ihre Mutter, die tatsächlich wachsam auf die Rückkehr ihrer Tochter gewartet hatte. Mr. Reading saß ebenfalls noch im Salon und las und so sagte sie ihren Eltern noch rasch eine Gute Nacht, bevor sie sich als Erste zu Bett begab, um den aufregenden Abend zu verdauen.

***

Bonnie konnte keine zwei Stunden geschlafen haben, als ein furchtbarer Tumult an der Eingangstür unten sie weckte. Schlaftrunken griff sie nach dem weißen Morgenkleid neben ihrem Bett und zog es sich, schwankend und orientierungslos, über. Als sich der Lärm etwas gelegt hatte, entzündete sie mit einem Streichholz die Kerze neben ihrem Bett, um nachzusehen, ob etwas passiert war. An einen Einbrecher glaubte sie jedoch nicht, da er schon ordentlich dumm wäre in ein Haus einzubrechen, dessen Bewohner Zuhause und vermutlich noch nicht einmal zu Bett gegangen waren. Ihr Vater war eine Nachteule und bewachte den Salon mit Argusaugen, bis er sich aufs Ohr legte und selbst dann - Mrs. Reading schimpfte ihn dafür fürchterlich - vergaß er manchmal die Kerze im Fenster auszublasen, was dem Haus den Anschein gab, als würde es niemals schlafen.

DorfgeflüsterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt