Am nächsten Morgen konnte Bonnie selbst miterleben, wie früh Mr. Northwood für üblich aufstand. Kaum, dass die ersten Sonnenstrahlen ihr Gesicht kitzelten, klopfte es bereits an der Zimmertüre und Bridgit richtete ihr aus, dass ihr Gastgeber in Kürze sein Frühstück einnehmen würde. Der Kälte in dem hellen Zimmer trotzend, sprang Bonnie aus dem Bett und wand sich schnell in ein weißes Morgenkleid mit dem sie sich blicken lassen konnte.
"Guten Morgen, Bonnie", grüßte Mr. Northwood gut gelaunt, als sie in das Esszimmer gestolpert kam. Während sie ihre Haare noch nicht einmal hochgesteckt und kein Korsett anhatte, schien er bereits seit geraumer Zeit auf den Beinen zu sein. Eine gewaltige Zeitung war vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet und der Tee daneben dampfte überhaupt nicht mehr.
"Guten Morgen", erwiderte sie leise und setzte sich gegenüber ihm an den gedeckten Tisch. "Du wirkst so ausgeschlafen und das um die Uhrzeit."
Statt einer Antwort, lachte Mr. Northwood bloß leise und schob Bonnie den Brotkorb zu. "Es tut mir schrecklich leid, falls Bridgit dich aus dem Bett geworfen hat. Eigentlich habe ich ihr bloß aufgetragen nachzusehen, ob du bereits auf bist."
Sie verkniff sich zu bemerken, dass sie bis zu dem Eintreffen der Haushälterin seelenruhig geschlummert hatte und widmete sich ihrem Frühstück, während Nathan die Zeitung verschlang. Bonnie bemerkte mit einem Anfall von Belustigung, dass unter dem Zeitungspapier ein umgedrehtes Buch lag.
Flink zog sie es darunter hervor und steckte eine Serviette hinein, bevor sie es sorgfältig schloss. Dann erging ein tadelnder Blick an ihren Gastgeber. "Bücher sind empfindlicher als man denkt."
Schuldbewusst verzog er das Gesicht und versicherte Bonnie, dass er das doch eigentlich wüsste und in Zukunft wirklich mehr darauf achten müsse die Rücken nicht zu beschädigen. Doch Bonnies Gedanken waren schon ganz woanders, während sie sich den letzten Bissen Marmeladenbrot in den Mund schob.
"Darf ich dich etwas fragen?"
Verwirrt sah er von seiner Lektüre auf. "Natürlich, alles was du möchtest."
Bonnie holte tief Luft, bevor sie begann ihm Löcher in den Bauch zu fragen, was ihr äußerst unangenehm war. Mr. Northwood musste bestimmt denken, sie steckte ihre Nase gerne in fremde Angelegenheiten. Aber wie sie sich gestern Abend vorgenommen hatte, wollte sie mehr über Nathan und ihren Vater erfahren und das ging nun einmal am besten, indem sie den Betroffenen direkt um Auskunft bat.
Sie begann bei seinem Nachnamen, doch da erinnerte sie sich schnell daran, dass ihr Vater, so ungewöhnlich es war, in die Familie ihrer Mutter eingeheiratet hatte. Zumindest hatte man ihr das einmal erzählt, denn Großeltern kannte Bonnie keine.
Stattdessen versuchte sie einen anderen Ansatz. "Mich würde einfach interessieren, ob du und mein Vater euch gut versteht. Wenn dir die Frage nicht zu persönlich ist."Mr. Northwood faltete die Zeitung zusammen und platzierte sie sorgfältig auf dem Sessel neben sich, bevor er seine volle Aufmerksamkeit Bonnie zuwandte.
"Die Frage ist nur allzu verständlich", seufzte er. "Ich weiß es selber nicht, um genau zu sein. Ich kenne ihn kaum; wie du weißt hatten wir nie viele Gelegenheiten uns zu sehen. Wir waren nie richtige Brüder so wie man sie sich vorstellt.""Gelegenheiten hätte es in London doch reichlich gegeben", platze Bonnie heraus und bereute es gleich darauf. Es war seine Sache, wenn er sie nicht besuchen wollte. Absolut niemand zwang ihn dazu.
"Wie gesagt, wir haben uns entfremdet. So etwas passiert auch in Familien, nicht nur unter Freunden."
"Das klingt als wäre es nicht das erste Mal für dich."
Nathan runzelte die Stirn bei Bonnies Kommentar und sah hinunter auf die angebröselte Tischplatte vor ihm. "In der Tat liegst du richtig, Bonnie. Ich habe keinen Kontakt zu meiner Familie mehr."
Dann schwieg er und die Atmosphäre wurde mit jeder Minute unangenehmer, weshalb Bonnie sich kurz darauf entschuldigen ließ und in ihr Zimmer lief, um ihre nervtötenden Fragen zu bereuen und zu hoffen, dass Mr. Northwood ihr nicht lange dafür böse sein würde, einen Nerv getroffen zu haben. Erst als sie die Haustüre ins Schloss fallen hörte, wagte sie sich wieder hinaus.
Trotz ihrer Nachfragen war sie kein Stück schlauer, was die Vergangenheit von Mr. Northwood anging. Sie hatte bereits beschlossen die Angelegenheit ruhen zu lassen, als ihr Bridgit über den Weg lief und freundlich grüßte. Natürlich, wer würde besser Bescheid wissen als die Haushälterin.
"Warten Sie einen Moment, Bridgit, bitte", rief Bonnie der Angestellten nach, die ihr bereits den Rücken gekehrt hatte.
Eilig kam diese zurück zu ihr. "Was gibt es denn, Miss?"
"Nun ... ich konnte gestern Nacht nicht schlafen und habe darüber nachgedacht, weshalb mein Vater und Mr. Northwood sich so wenig nahestehen. Es ist doch nichts passiert, das ich besser nicht erwähnen sollte?"
Die Haushälterin schüttelte ihren rundlichen Kopf mit einem beruhigenden Lächeln. "Nicht doch, Miss, die beiden hatten nie einen Streit, wenn sie solche Dinge meinen. Mr. Reading war immer eine Stütze für den jungen Herrn."
Bonnie blinzelte verwirrt. "Aber ich dachte sie haben sich nie getroffen?"
"Nein; nun gut, vielleicht ein, zwei Mal, aber ich rede von den Briefen und dem Geld. Hören Sie, ich weiß darüber reden die feinen Herrschaften nicht so gerne, aber immerhin hätte Mr. Northwood ohne das Geld nie eine so fabelhafte Ausbildung genossen. Womöglich wäre er dann heute gar nicht derselbe - vielleicht ein Anwalt wie sein Vater -, aber niemals ein Gentleman, also wenn das nicht ein fürsorglicher Bruder ist, dann weiß ich nicht weiter, Miss."
Bonnie verdaute die Flut an neuen Informationen nur langsam. Ihr Vater hatte Mr. Northwood Geld für seine Ausbildung geschickt? Nun gut, das war plausibel, immerhin waren deren Eltern früh gestorben und der älteste Bruder musste die Vormundschaft erhalten haben. Doch weshalb hatte er Nathan hierher geschickt, viele Stunden von London entfernt?
Da von dem blonden Mädchen keine Antwort mehr kam, wandte sich Bridgit gerade zum Gehen um, als diese hochschreckte.
"Ein Anwalt wie sein Vater?"
"Wie bitte, Miss?", fragte die Haushälterin erschrocken über die Abruptheit des Ausrufs nach.
Bonnie zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen und kam ein paar Schritte auf Bridgit zu. "Sie sagten vorhin, dass er ansonsten ein Anwalt geworden wäre; wie sein Vater. Ich weiß jedoch mit Sicherheit, dass mein Großvater niemals Anwalt gewesen ist."
"Oh, das tut mir leid, Miss. Da muss ich wohl etwas verwechselt haben - wenn Sie mich bitte entschuldigen, es gibt so viel zu tun", beeilte sich Bridgit zu sagen, schon halb aus dem Raum und Bonnie hatte keine Wahl als zurückzubleiben und sich zu wundern.
So viele Fragen, auf die sie keine Antworten wusste und jedes Mal, wenn sie nachfragte, wurden es nur noch mehr. Bonnie ließ sich in Gedanken versunken auf einen Sessel sinken und schloss die Augen, wie um alles Geschehene zu vergessen. Die leise Vorahnung, die von ihr Besitz zu ergreifen begann, wollte sie nicht recht wahrhaben.
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Dorfgeflüster
Romance1811 in England, Maplehill. Eine junge Frau aus London muss vor den bösartigen Gerüchten der Städter in ein kleines Dorf fliehen. Dort wartet scheinbar gar nichts auf Bonnie Reading außer Unmengen an Natur, Stille und langatmigen Teekränzchen. Ein V...