Die Krankenstation

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Staubkörner tanzten im Licht eines späten Nachmittags als sie aus der Dämmerung auftauchte. In der Luft lag der Duft von Bohnerwachs und frischer Wäsche. Doch über allem schwebte der beißende Geruch des Desinfektionsmittels.
Schlagartig war Hjördis hellwach. Hastig versuchte sie sich aufzurichten, was ihr Körper mit einer Sammelklage quittierte. Sie sank zurück in ihr Kissen. Nachdem sie die Augen wieder öffnen konnte, ohne das Sterne den Schwindel begleiteten, ließ sie ihren Blick durch den Raum wandern. Lichtstrahlen fielen durch die hohen Fenster und malten Flecken auf alten Kieferdielen. Auf der gesamten Länge des Raums waren Krankenbetten aufgestellt, doch bis auf Hjördis waren alle unbelegt.
Hjördis schlug die Decke beiseite und musste feststellen, dass sie eines dieser blauen Krankenhaushemden trug, die immer nur das Nötigste verbargen. Ihr linker Oberschenkel war mit einem dicken, weißen Verband umwickelt. Er saß fest und sah sehr professionell aus. Sie roch eine ihr unbekannte Salbe, die vermutlich auf Kräutern basierte. Beim Versuch, den Verband zu lösen, zuckte ein unangenehmes Brennen durch ihre Hand.
Vorsichtig drehte sie sich zu dem kleinen Stahltisch, der neben ihrem Bett stand. Keine Weintrauben. Generell keine Dinge, die darauf hinwiesen, wo sie sich befand. Eins war jedoch klar. Sie befand sich nicht im Krankenhaus von Borgarnes. Sie befand sich in überhaupt keinem ihr bekannten Krankenhaus. Wo war das Linoleum und piepsenden Geräte? Wo waren die anderen Patienten, die Krankenpfleger, die Ärzte?
Das alles stank zum Himmel, fand Hjördis. Sie wusste weder wo sie war, noch wie lange sie geschlafen hatte. Es musste lange gewesen sein, denn die Schmerzen der Welle waren bereits zu einem Hintergrundrauschen verblasst. Misstrauisch betrachtete sie die Infusion. Vermutlich handelte es sich um eine einfache Kochsalzlösung, doch Hjördis gefiel es nicht, dass man etwas in sie hineinpumpte, von dem sie nicht wusste, was genau es war. Sie schloss die Klemmrolle am Schlauch und zog behutsam den Katheter aus ihrer Hand.
An der Wand abgestützt, humpelte sie auf wackligen Beinen zur Tür. Leise drückte sie die Klinke herunter. Die Tür war nicht verschlossen. Hjördis spähte in den Gang. Auch hier war alles in Kiefer gehalten, doch es fehlten die Plastikstühle, die Krankenbesuche normalerweise zu einer physiologischen Tortur machten.
Rasch zog Hjördis ihren Kopf zurück, als sich Schritte näherten. So schnell sie konnte, schlüpfte sie zurück in ihr Bett und gab sich schlafend. Die Tür wurde geöffnet und jemand kam pfeifend auf sie zu. Den Schritten nach zu urteilen, war die Person klein und leicht. Hjördis prüfte die Luft. Der Geruch verriet ihr, dass es ein Mädchen war.
Abrupt endete das Pfeifen. Das Mädchen trat näher ans Bett. Auf Höhe des Infusionsständers, stellte
Hjördis erschrocken fest. Offensichtlich hatte die Fremde den losen Schlauch bemerkt. Nun griff sie nach Hjördis Hand. Sie würde doch nicht...
„Ertu brjálaður?!", schrie Hjördis.
Vor Schreck fiel dem Mädchen die Nadel aus den Fingern und es stolperte einige Schritte zurück. Hjördis blickte auf ihre Hand, die von ihrer eigenen unbedachten Nadelentfernung ohnehin schon geblutet hatte.
„Du bist ja endlich auch wach.", sagte das fremde Mädchen aufgeregt, doch Hjördis verstand kein Wort.
„Hvað?", fragte Hjördis und presste sich die Decke auf die Hand. Wie konnte man so dumm sein und versuchen eine Infusionsnadel neu zu setzten, wenn man offensichtlich keine Ahnung davon hatte? Erste rote Flecken zeigten sich auf dem weißen Stoff.
Das Mädchen sah sie einen Augenblick irritiert an und entschied sich, dem Ausdruck in seinem Gesicht nach zu urteilen, dafür, dass es keinen Sinn hatte, weiter an einander vorbeizureden. Stattdessen legte sie in einer Sprache los, die Hjördis als Englisch mit starkem Akzent auf dem Stand einer Dreizehnjährigen identifizierte. Während es in einem Wandschrank nach etwas suchte, plapperte das Mädchen auf seinem schwer verständlichen Kauderwelsch weiter. Als es schließlich mit Verbandsmull und Desinfektionsmittel zurückkehrte, wusste Hjördis, dass es Hannah hieß und aus Deutschland stammte. Hannah war tatsächlich 13 Jahre alt und hatte heute Krankendienst. Sie redete ununterbrochen weiter, sogar als Hjördis ihr die Sachen abnahm und die Haut um die Einstichstelle selbst reinigte. Hannahs Redeschwall war nicht zu unterbrechen. Innerhalb von fünf Minuten erfuhr Hjördis so gut wie alles über sie; Ihre Lieblingsmusik, ihre Schule und welches Essen sie nicht mochte. Ab und an versuchte Hjördis sie zu unterbrechen, doch ihre Fragen, wo sie war und welcher Tag heute war, wurden von einem Wasserfall aus Worten ertränkt.
Irgendwann gab Hjördis auf. Sie sank zurück und presste sich das Kissen auf die Ohren.
„Bitte.", murmelte sie, „Bitte, lass mich sterben."
„Sei froh, dass wir dich rechtzeitig daraus geholt haben. Du warst schon näher auf der anderen Seite, als gut für dich war.", hörte sie jemanden. Augenblicklich verstummte Hannah verbaler Anfall.
Hjördis schlug die Augen auf und richtete sich auf. Eine Mädchen stand in der Tür. Es war etwa in ihrem Alter und hatte kurzes, braunes Haar. Es strahlte das Selbstbewusstsein eines Berges aus. Sein Geruch kam Hjördis auf eine merkwürdige Art vertraut vor. Dunkle Felsen und klare Bergluft. Das merkwürdigste an ihm waren jedoch die Augen. Das Schwarz der Pupille ging beinahe nahtlos in ein tiefes Grau über, das keinen Platz für das normalerweise Weiß des Augapfels übrigließ.
Die Fremde schritt auf die beiden Mädchen zu und musterte Hjördis abschätzig. Sie achtet darauf, keine Geräusche zu erzeugen, dachte Hjördis. Ob aus Höflichkeit oder aus Angewohnheit konnte sie jedoch nicht sagen.
Hannah stand regungslos neben dem Bett. Unter ihrem Respekt vernahm Hjördis einen leisen Hauch von Furcht. Sie entschied, dass sie besser auf der Hut bleiben sollte, bis sie die Fremde besser einschätzen konnte.
„Du bist wach.", sagte die Fremde.
„Mehr oder weniger.", erwiderte Hjördis.
„Du hast Fragen.", stellte die Fremde fest. Sie redet ohne Fragezeichen, fiel Hjördis auf. Sie sitzt am längeren Hebel und das weiß sie auch.
„Wo bin ich?", fragte Hjördis.
„In Sicherheit."
„Das ist keine Antwort. Ich würde gerne selbst entschieden, ob das hier Sicherheit ist oder nicht."
Die Fremde seufzte: „Du bist hier im Fort, besser gesagt in den Ozarks. Wir haben dich vor fünf Tagen hierher geholt."
„Warum hier? Warum nicht ein richtiges Krankenhaus, das näher lag?"
„Wir brauchen deine Nase. Oder besser alle deine Sinne.", sagte die Fremde. Unter der Decke umklammerte Hjördis die Spritze fester, die sie bei ihrer Tour durchs Zimmer von einem der Tische genommen hatte. Sie warf einen kurzen Blick auf Hannah. Von ihr würde sie vermutlich keine Hilfe erhalten, wenn es hart auf hart käme.
„Dann will ich dir jetzt etwas sagen. Anstatt mich ins amerikanische Hinterland zu verschleppen, hättet ihr auch einfach fragen können.", sagte Hjördis bissig.
„Du lagst fünf Tage im Koma. Du wärst dort im Hafen fast gestorben, für Fragen war da nicht viel Zeit.", die Stimme der Fremden blieb immer noch ruhig, doch ein leises Zittern der Wut schwang darin mit.
„Mit Undankbarkeit hat das nichts zu. Aber wenn man auf einer fremden Krankenstation aufwacht und gesagt bekommt, dass man nur hier ist, weil seine Nase gebraucht wird, klingt das eher wie ein schlechter Thriller, in dem es um Schönheit-OPs geht, als um eine richtige Erklärung."
Langsam reichte Hjördis dieses Frage-Antwort-Spiel. Wenn sie Lust auf Black Stories hätte, hätte sie es längst gesagt. Hannah wäre bestimmt gut darin.
Unbehagen schlich sich in die Luft. Es ging nun nicht mehr nur von Hannah aus. Auch die Fremde strahlte jetzt Unwohlsein unter ihrer Fassade aus Ruhe aus.
„Wir brauchen dich, um herauszufinden, warum das alles passiert ist.", sagte die Fremde.
„Warum was passiert ist?", fragte Hjördis hitzig.
„Du hast die Welle gespürt. Du weißt, dass sie nicht normal war."
„Sag es doch einfach."
„Ich will, dass du selbst darauf kommst."
Wellen entstanden durch den Wind, die Gezeiten und die Strömungen. Diese jedoch war anders gewesen. Genau wie die Vögel hatte sie es am Morgen auch gespürt, nur hatte sie es falsch gedeutet. Es war ein Tsunami gewesen, doch im Nordatlantik sollte es keine geben.
Auf wackeligen Beinen schob sie sich aus dem Bett. Die Spritze hielt sie dabei wie ein Schwert von sich gestreckt. Zwar stand sie mindestens einen Meter von der Fremden entfernt, doch sie sah die Ader an ihrem Hals pochen. Zeit in den heißen Brei zu springen.
„Was ist passiert?", knurrte Hjördis.
„Leg die Spritze weg, dann können wir darüber reden.", erwiderte die Fremde gelassen.
„Nein, wir werden jetzt darüber reden. Keine Ausreden, keine bloßen Andeutungen.", sie war selbst über die Wut in ihrer Stimme erstaunt.
„Ich glaube nicht, dass du das Zeug dazu hättest, jemanden mit einer Spritze zu verletzen.", lächelte die Fremde.
„Lapis...", meldete sich nun zum ersten Mal seit langem Hannah mit sichtlichen Zweifeln zu Wort.
„Du kannst nicht wissen wie ich reagieren werden. Also rede jetzt endlich Klartext, oder einer von euch hat diese Spritze im Hals.", rief Hjördis und musste fast über sich selbst lachen. Hier stand sie also, in einem dünnen Hemd, mit einem Verband am Bein und einer Spritze in der Hand. Sie, die nicht mal jemanden vernünftig beleidigen konnte, war fest entschlossen, sich mit einer Nadel Antworten zu verschaffen.
Die Fremde, Lapis, gab vor so viel geballter Wut und allgemeiner Verwirrung nach.
„Stell dir eine Explosion vor. Stärker als alle Atombomben des kalten Kriegs zusammen. Stell dir vor, jemand würde sie zünden, was zum Glück nie passieren wird. Stell dir das Beben, das sie auslöst, vor."
„Nein, das kann nicht sein. Bis 10 sind wir auf der Richterskala nie gekommen.", japste Hjördis.
„Das war keine 10. Das war eine 10,3.", sagte Lapis und es fiel ihr sichtlich schwer diese Worte über die Lippen zu bringen, „Was ich damit sagen will - Hjördis - Europa existiert nicht mehr."

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