So wie es in den Wald ruft...

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Die Sonne war kaum hinter den grauen Wolken aufgegangen. Die Überreste des Lagerfeuers glühten orange. Jedes mal wenn eine Schneeflocke auf die heruntergebrannten Scheite fiel, zischte es leise. 
Hjördis starrte in die Glut, ihre Hände waren tief in den Taschen ihrer geklauten Jacke vergraben. Aus dem Zelt hörte sie die gleichmäßigen Atemzüge von Karu und Hannah. Das sanfte Auf und Ab holte sie zurück in den letzten Sommer, als sie mit Elin und Kjell in den Westfjorden Campen gewesen war. Das Wetter war vergleichsweise gut gewesen, es regnete nur einmal am Tag. Sie hatte wie jetzt vorm Lagerfeuer gesessen und dem Blöken der Schafe zwei Hügel weiter gelauscht. Hjördis war sich nicht sicher gewesen, ob sie ihren Großeltern oder dem Nachbarn einige Kilometer weiter weg gehörten. Sie hatte ihr Notizbuch aufgeschlagen und angefangen zu schreiben, währen sie darauf wartete, dass die anderen beiden aufwachten. Als sie die Seite umgeblättert hatte, stutzte sie. In Elins Handschrift hatte am Seitenrand eine Zeile aus ihrem Lieblingslied gestanden: Step one, you say we need to talk. Damals hatte Hjördis gelächelt. Elin hatte ihr das Buch geschenkt und öfters solche kleine Nachrichten darin hinterlassen. 
Heute kamen ihr diese Worte wie eine Warnung vor. Sie hatte Aaron im Stich gelassen und so einen Freund verloren. Was ist mit Elin und Kjell und ihren Familien? Was ist mit Arian? Leben sie noch und wenn ja, glauben sie, dass ich tot bin?, fragte sie sich. Ihr altes Leben schien plötzlich unfassbar weit weg. 
Ein Knacken riss sie aus den Gedanken und ihre Hand fuhr zu dem improvisierten Speer an ihrer Seite. WOC-Mitarbeiter oder Tier? Sibirien war bekannt für seine Bärenpopulation. Aber gegen einen Bären, der im Schnee auf Futtersuche war und sich wunderte, warum es schon wieder Winter war, würde ihr angespitzter Holzstock kaum etwas ausrichten können. 
Hjördis schnupperte prüfend in der Luft und seufzte. Der Wind wehte in die Richtung, aus der das Geräusch erklungen war. Leise erhob sie sich. Der Schnee unter ihren Füßen knirschte unangenehm laut, als sie näher schlich. 
Wieder ein Knacken, viel näher diesmal. Inzwischen war sie sich sicher, dass es kein normaler Waldlaut war. Der Wind drehte kurz und Hjördis erhaschte eine flüchtige Geruchsspur. Mensch. Weiblich. Erleichtert atmete sie auf. Kein Bär. 
Aber wer war es dann? Die WOC-Mitarbeiter hatten keine Frauen unter sich gehabt. Es sei denn, sie hatten Verstärkung angefordert. Aber diese Frau war allein … 
„Ihr solltet euer Lager besser sichern,“ verkündete eine raue Stimme hinter Hjördis, „Meine Gefährten nehmen es gerades auseinander.“ 
Das Mädchen zuckte zusammen, dann stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen. „Netter Bluff. Du hattest seit Tagen keinen Kontakt mehr zu anderen Menschen.“ Sie drehte sich um und blickte ins Gesicht einer jungen Afrikanerin, die einen Speer auf ihre Brust gerichtet hatte. In den Augen der Frau spiegelte sich Verwirrung.
„Welche Fähigkeit?“, fragte sie schroff. Ihr Speer senkte sich nicht. 
„Verstärkter Geruchssinn,“ erwiderte Hjördis selbst verwirrt. Ihre Hände umklammerten ihren eigenen Speer, doch sie sich ihn unten zu halten. Nochmal würde sie es nicht so weit kommen lassen wie in Satori Industries. „Wer bist du?“ 
„Amechi,“ sagte die junge Frau. „Ich gehörte zum Team, das ATLAS vor drei Jahren hierher geschickt hat.“ 

Amechi war Mitte zwanzig, groß und hungrig. Fasziniert sah Hjördis dabei zu wie sie in den dritten Energieriegel – Cranberry-Haselnuss – biss. Sie fand diese Teile ziemlich widerlich. 
„Drei Jahre? Warum hat man uns im Fort nie davon erzählt?“, fragte Karu und reichte Amechi seine Wasserflasche, damit sie den Riegel runterspülen konnte.
„ATLAS hält mich für genauso tot wie alle anderen, die sie geschickt haben,“ meinte Amechi mit vollem Mund und schluckte, „Aber ihr seid die ersten, die seit über einem Jahr geschickt wurden. Ich hatte gedacht, sie hätten es inzwischen aufgegeben.“ 
„Warum hast du dich nie bei ihnen gemeldet? Du hättest ihnen von Andrej und der WOC erzählen können!“, gestikulierte Hannah wild. 
Hjördis schwieg. Amechi war ihnen drei Tage lang gefolgt. Sie hatte zwar erzählt, dass es sehr schwierig gewesen sei, doch wenn sie es geschafft hatte, konnten die Sicherheitsleute dies auch. Noch war sie sich außerdem nicht sicher, ob sie Amechi vertrauen konnten. Eins konnte Hjördis aber mit Sicherheit feststellen: Amechi hatte nicht gelogen, als sie erzählt hatte, dass sie drei Jahre in der Wildnis verbracht hatte. 
Die Kleidung der Frau war abgetragen und an einigen Stellen geflickt. Ihre kurzen Haare waren zerzaust und hatten seit längeren kein Shampoo mehr gesehen. Und Amechi war dünn. Schrecklich dünn. Zwar sah man dies wegen der dicken Kleidung kaum, doch ihre Finger wirkten abgemagert und ihr Gesicht eingefallen. Vom Geruch wollte Hjördis erst gar nichts wissen. 
„Ich kann nicht zurück! Ich hab das Killerkommando damals nur wegen meiner Fähigkeit überlebt, während sie Cielo abgeschlachtet haben!“, rief Amechi aufgebracht und Hjördis zuckte zusammen. „Die Western Oil Company kontrolliert von Anadyr bis Nelkan und Werchojansk, ob sich Wissenschaftler von ATLAS oder sonst wem in der Gegend aufhalten. Ich habe versucht von Magadan in die USA zu gelangen, aber sie haben in der Nähe des Flughafens auf mich gewartet und ich musste wieder fliehen. Inzwischen denken sie wohl, dass ich von einem Bären oder so gefressen wurde und das soll auch so bleiben.“ Aus ihrer Stimme sprach Verzweiflung. 
Am liebsten hätte Hjördis sie in den Arm genommen, doch Amechi würde das bestimmt nicht zulassen. Dafür war sie zu stolz. Trotz ihres Zustandes saß sie aufrecht und ihre Augen beobachteten wachsam die Umgebung. 
„Cielo … Er war dein Partner oder?“, wollte Karu wissen. 
Amechi nickte. „Sie haben ihn mit einem Kopfschuss erledigt, bevor irgendjemand reagieren konnte.“ 
Ein Zittern ging durch Hjördis Körper. Es begann am unteren Ende ihrer Wirbelsäule und kroch langsam aufwärts, um schließlich ein Klumpen in ihrer Kehle zu werden. Erschossen. Wie Aaron. Wie der Wächter. Ich bin schuld. Ich hätte schneller laufen müssen, dann wären wir beide durchgekommen ... 
Karu schien ihre Gedanken zu erraten. Er drückte beruhigend ihre zitternde Hand. 
„Wie bist du entkommen?“, fragte Hannah neugierig. 
„Mir haben sie zweimal in die Brust geschossen. Sie dachten, ich wäre tot und warfen mich neben Cielo in ein Erdloch. Sie waren bereits dabei unser Grab zuzuschaufeln, als sich meine Wunden ganz geschlossen haben. Ich bin aufgesprungen, habe einen von ihnen den Spaten über den Schädel gezogen und bin gerannt, einfach nur gerannt,“ erklärte Amechi und ihr Blick schweifte in die Baumwipfel. 
„Selbstheilung,“ stellte Hjördis fest. Die junge Frau nickte. 
„Jetzt ihr. Ich hab seit Jahren keine Nachrichten mehr mitbekommen. Warum schneit es Asche, obwohl es fast Sommer ist?“, erkundigte Amechi. Sie formte einen grauen Schneeball. 
Bevor Hjördis etwas erwidern konnte, kam ihr Hannah zuvor: „Die meisten Wissenschaftler gehen davon aus, dass ein Vulkan unter Italien ausgebrochen sei. Erklären kann es aber niemand. Es gab keine Vorbeben und die Explosion sei zu gewaltig gewesen.“ 
Nach längeren Schweigen murmelte Amechi: „Dann stehen wir wohl am Abgrund.“ 
Hjördis schnaubte. Am Abgrund? Wir stehen nicht am Abgrund. Wir sind bereits gefallen und fallen immer weiter, bis wir hart am Boden aufschlagen. 
„Was ist so lustig?“, fragte Amechi. 
„Nichts. Alles“, meinte Hjördis bitter. „Wir sitzen hier im Wald, während die Welt untergeht und kümmern uns um ein Problem, das bereits seit über zwanzig Jahren existiert.“ 
Amechi schwieg. Es lag etwas in dem Schweigen, das Hjördis nicht genau benennen konnte. 
„Moment. Heißt das etwa, du weißt, warum?“, kam ihr Karu zuvor. 
Amechi lachte bitter und starrte ins Lagerfeuer. Ein Scheit sackte knackend in sich zusammen. Funken stoben zum Mittagshimmel. Als sie zu sprechen begann, war ihr Stimme belegter als zuvor: „Man hat viel Zeit darüber nachzudenken, wenn man drei Jahre in den Wäldern lebt. Die Western Oil Company ist an allem Schuld. Vor etwa dreißig Jahren förderten sie Öl in Alaska, sowohl vor der Küste als auch am Festland. Irgendwann gingen die Umweltschützer auf die Barrikaden, weil es in der Gegend um die Förderstellen zu Wasserverschmutzung und Waldsterben kam. WOC versuchte damals viel, um den Schaden zu begrenzen, aber es half nichts.“ 
Hjördis nickte. Hannah tat es ihr gleich. Von der WOC-Krise in den 80ern hatte sie von ihren Eltern gehört. Während der Prozesse gegen die Firma havarierte die Exxon Valdez und lenkte noch mehr Aufmerksamkeit auf die Ölgeschäfte in Alaska. 
„Anscheinend steckten sie viel Geld in genetische Forschung,“ fuhr Amechi fort. „Und sie hatten Erfolg. WOC gelang es, widerstandsfähigere Pflanzen heranzuzüchten, die sich schneller vermehrten, mit extremen Temperaturen klarkamen und auf scheinbar jeden Boden wachsen konnten. 
Aber die Konzernführung wusste, dass es ein länger und harter Weg wäre, bis sie die Pflanzen ansiedeln könnten. Unzählige Tests wären nötig gewesen, Untersuchungen von unabhängigen Wissenschaftlern. Die Umweltschützer und die Regierung hätte sicher etwas dagegen einzuwenden gehabt. Also sparte man sich die Bürokratie und pflanzte die Setzlinge von verschiedenen Baumarten ein.“ 
„Aber...“ unterbrach Karu sie verwirrt, „inzwischen gehen die meisten Forscher davon aus, dass alles in Russland begann. Die Bäume hier sind älter als die in Nordamerika.“ 
WOC wäre auch dumm gewesen, hätten sie mit ihrem Projekt vor der eigenen Haustür begonnen, dachte Hjördis, Sie standen unter zu scharfer Beobachtung der Medien und konnten es sich nicht erlauben, wären alle Pflanzen in der Nähe der Fördertürme auf wundersame Weise über Nacht nachgewachsen. Also fängt man am besten in einem anderen Land, auf einem anderen Kontinent, an. Dann wartet man eine Weile und behauptet schließlich man hätte nichts damit zu tun, das russische Problem ist nur über die Beringstraße geschwappt. So ähnlich erklärte sie es auch den anderen beiden. 
„Genau,“ sagte Amechi. „Erst später zeigte sich, dass ihr Experiment zu gut gelaufen war. Die Bäume vermehrten sich zu schnell, wuchsen zu schnell. Die veränderten Bäume stahlen den normalen Pflanzen den Lebensraum und das Licht. Im Grunde haben sie eine Umweltkatastrophe mit einer noch schlimmeren ausgetauscht.“ 
Hjördis sah sich um. Bäume wohin sie blickte. Die kleinen und jüngeren Pflanzen waren unterm Schnee begraben, aber sie hatte davon gehört, hatte selbst gesehendas wenige verschieden Arten waren. Aber hatte es nie anders gekannt, weil sie geboren worden war, nachdem die rasante Ausbreitung der Wälder begonnen hatte. Und Island war nicht gerade für seine beeindruckenden Wälder bekannt. 
Europa war nicht von den seltsamen Wäldern betroffen, aber Forscher gingen davon aus, dass die schnell wachsenden Pflanzen innerhalb der nächsten zehn Jahre den Ural überqueren würden. Das hat sich erledigt, dachte sie traurig und erinnerte sich an Lapis Worte, nachdem sie aus dem Koma erwacht war, Europa existiert nicht mehr. Schutt und Asche ist alles, was übrig geblieben ist. Selbst die Wunderbäume sollten dort Schwierigkeiten haben. 
„Woher weißt du das alles?“, fragte Hannah fassungslos. 
„Ich wäre beinahe gestorben, als Andrej Cielo und mich auslieferte. Während sie uns begruben, redeten die Männer. Ich verstand kaum etwas, konnte mich kaum bewegen und hoffte, dass sich die Wunden schnell genug schlossen, bevor ich verblutete. Aber es reichte, um sich einen Teil zusammenzureimen,“ Amechi stockte. „Vergesst die Proben in euren Rucksäcken. Das haben bereits tausende vor euch versucht und sind zu keinem Ergebnis gekommen, außer das es starke genetische Abweichungen gibt.“ 
„Sie müssen Andrej erpresst haben,“ fügte Karu hinzu. „Er wollte, dass wir bleiben. Er hat gezögert.“ 
„Ich konnte es damals auch kaum glauben. Ich hatte ihn schon einmal getroffen und er schien mir nicht wie jemand, der sich an Mord beteiligt. Er hat uns nur ausgeliefert und ist dann gefahren. Vermutlich wusste er nicht, was uns geschehen sollte. Unglaublich naiv,“ erklärte Amechi aufgebracht und Hjördis wich einer wild gestikulierenden Hand aus. 
„Hoffentlich hat Kolja es geschafft,“ murmelte Hjördis. Wenn nicht, erfährt ATLAS nie von Django und Andrej. Zwei Verräter. Zwei Verräter, von denen wir wissen und vielleicht gibt es noch mehr. Wenn Kolja scheitert wird, schickt WOC womöglich Leute zu den Kolesnikows. Ihnen darf nichts geschehen! 
„Wenn alles stimmt, was du gesagt hast, müssen wir damit an die Öffentlichkeit,“ meinte Karu zu Amechi. „WOC darf damit nicht durchkommen!“ 
Sie werden nicht damit durchkommen. Aktuell hat die Welt aber ein größeres Problem als die Bäume, dachte Hjördis und sah zum Himmel. 
„SIA,“ fiel ihr plötzlich ein, „Amechi, hast du schon mal etwas von SIA gehört?“ 
Die Frau zuckte mit den Schultern: „Nein, was soll das sein?“ 
„Nicht weiter wichtig,“ sagte Hjördis und verabscheute sich selbst dafür. Aber sie wollte einer Fremden nicht erzählen, dass Aaron wegen ihr gestorben war. Und was noch in Satori Industries passiert war. Nicht wenn Hannah dabeisaß. 
„Ich kenne eine Höhle etwa zwei Tagesmärsche von hier entfernt, die ich manchmal als Unterschlupf nutze. Dort können wir uns verstecken, bis dieser Kolja uns abholt. Ich finde es ist an der Zeit für mich, aus diesen Wäldern zu verschwinden,“ erklärte Amechi, warf Hjördis aber einen zweifelnden Blick zu. Sie weiß, dass wir ihr etwas verheimlichen. Wenigstens hat Hannah nicht weiter gefragt. 

Sie brachen ihr Lager ab. Es zischte und Wasserdampf stieg auf, als Hjördis Schnee in das Lagerfeuer schaufelte. Karu verstaute das Zelt in seinem Rucksack. Amechi stand auf ihren Speer gestützt in der Nähe. Neben ihr wanderte Hannah unruhig auf und ab. 
Die Lösung war so einfach, dachte Hjördis und stapfte durch den Schnee auf die beiden zu, Jetzt müssen wir nur die Zivilisation lebend erreichen, dann können wir nachhause zurückkehren. 
Sie lächelte und folgte den anderen durch die Bäume. 

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