Sie wussten nicht, was sie mit den Söldnern tun sollten, deshalb fesselten sie sie mit Klebeband und sperrten sie in ihre Wagen, nachdem sie die Reifen durchstochen hatten.
Sherbrooke, Sherbrooke, Sherbrooke, spukte Karu durch den Kopf, während er Kolja dabei half, den bewusstlosen Andrej in den Van zu verfrachten. Django ist ein Verräter. Und wenn er doch keiner ist, dann hat er zumindest etwas mit alldem hier zu tun. Wie viele Menschen auf der Welt tragen den Namen Sherbrooke?
Sie hatten Kolja alles erzählt. Von den Fähigkeiten, von ATLAS und ihrem Auftrag.
„Ich habe immer etwas in diese Richtung geahnt“, berichtete Kolja, „Aber nie so weit. Vor Jahren war ich bei ihm zu Besuch, als es an der Tür klingelte. Zwei junge Leute standen dort, vielleicht ein paar Jahre älter als ihr, mit großen Rucksäcken und diesen Leuchten in den Augen als würden sie bald etwas Großartiges leisten. Sie unterhielten sich eine Weile mit meinem Bruder und dann fuhren sie los. Ich sah sie nie wieder. Als mein Bruder zurückkam, schloss er sich in seiner Werkstatt ein und kam stundenlang nicht heraus. Tatjana hat durch die Tür auf ihn eingeredet, aber er wollte nicht herauskommen. Als er es irgendwann doch tat, wirkte er völlig fertig und mit den Nerven am Ende. Tatjana erzählte mir später, dass das schon vorher passiert wäre und sie selbst nicht wusste, wer diese Leute waren, die unbedingt in die Wälder wollten. Erst dachte sie, es seinen nur Bekannte von früher, die wandern wollten, aber für Bekannte blieben sie nie lange genug und das Verhältnis war zu kühl. Sie machte sich Sorgen um Andrej und um das, was in den Wälder womöglich geschah. Heute hat sie mich gebeten, mitzufahren. Nicht umsonst, wie es scheint.“ Er lachte bitter: „Verdammte Telekinese.“
Karu übersetzte für die anderen. Seine Gliedmaßen fühlten sich noch immer an wie Kaugummi, das zu lange in der heißen Sonne gelegen hatte und seine Zunge ähnelte Sandpapier. Noch länger in den Gedanken des Söldners und er wäre komplett ausgekühlt. Keine Söldner. „Inoffizielle Sicherheitsbeauftragte“ hatte die Frau sie genannt.
Hjördis schenkte ihm etwas von dem lauwarmen Tee ein. Er klammerte den Becher als wäre er ein Rettungsanker. Wenn er ihn losließe, würde er im Schnee versinken. Inzwischen saßen sie im Van. Die Heizung lief, konnte die Kälte in Karus Knochen aber kaum vertreiben.
„Was werdet ihr jetzt tun?“, fragte Kolja. „Die Wälder sind zu gefährlich und womöglich gibt es noch mehr von diesen Typen.“ Er tippte gegen die Scheibe der Fahrertür und deutete so auf die Wagen der inoffiziellen Sicherheitsbeauftragten.
„So sind die Einzigen zwischen hier und Jakutsk.“, widersprach Karu.
„Woher willst du …,“ setzte Kolja an, murmelte dann jedoch, „ach, stimmt ja.“ Er fuhr sich durch die schmierigen Haare.
„Das ist unsere letzte Chance,“ warf Hjördis ein.
„Man kann euch nicht davon abbringen, was?“, Koljas klang beinahe verzweifelt.
Karu schüttelte den Kopf. Er wusste ohne hinzusehen, dass die beiden Mädchen es ihm gleichtaten. Sie würden gehen. Die Entscheidung hatten sie bereits am Morgen getroffen. Die Entscheidung hatten sie bereits vor Wochen getroffen, als sie im Fort geblieben waren.
„Immerhin wissen wir jetzt mehr,“ sagte Karu. „Wir wissen, warum ATLAS nie eine Lösung gefunden hat. Und wer noch damit zu tun hat.“ Aber warum wurde uns nie erzählt, dass die anderen verschwunden sind? Ihm war natürlich bewusst gewesen, dass sie nicht die Einzigen waren, die ATLAS in all den Jahren losgeschickt hatte, um herauszufinden, was mit den Bäumen los war. Seit zwanzig Jahren suchten sowohl ATLAS als auch die Regierungen der Welt - allen voran Russland, Kanada und die USA – nach der Antwort auf das rasante Wachstum.
„Dann geht,“ erwiderte Kolja bitter. „ Es wird zwar ganz bestimmt euer Untergang sein, aber ich werde euch wohl kaum aufhalten können.“ Der traurige Blick des Mannes ruhte auf Hannah.
„Es tut uns leid,“ sagte Hjördis und lächelte schwach. „Aber wir müssen das tun. Kommst du mit Andrej zurück, wenn
er aufwacht?“
„Ja, als wir jünger waren, habe ich auch immer gewonnen. Telekinese hin oder her, er ist kein Kämpfer.“ Er lachte trocken. „Und Tatjana wird sich um den Rest kümmern.“Der Van suchte sich seinen Weg durch den schmutzigen Schnee, während Hannah, Hjördis und Karu ihm hinterherwinkten. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in Karu aus. War es wirklich eine gute Idee, sich auf Kolja zu verlassen? Er hatte zwar versprochen in zwei Wochen an diesen Ort zu kommen um sie gegebenenfalls abzuholen, doch womöglich vergaß er dies im Suff.
Karu betete darum, dass Kolja wenigstens sein Versprechen hielt und die Polizei hierher schickte, damit sie sich um die „inoffiziellen Sicherheitsbeauftragten“ kümmerte. Er hatte den anderen noch nicht alles erzählt, was er in den Erinnerungen gefunden hatte. Stattdessen hatte er Kolja nur einen Zettel mit der Nummer des Forts gegeben mit der Bitte, Cummingfield oder irgendwen, der gerade dranging zu sagen, dass man Django nicht trauen durfte. Und das einer der größten amerikanischen Industriekonzerne darin verwickelt war. Mehr hatte er Kolja nicht anvertrauen wollen. Vermutlich kommt der Anruf eh nicht durch.
Er drehte sich um, als es hinter ihm rumpelte. Aus dem Inneren eines der beiden Wagen hörte er gedämpfte Kampfgeräusche. Hjördis und Hannahs Spuren führten zum halb geöffneten Laderaum des Transporters. Er sprintete zur Tür und riss sie auf.
Seine Panik verwandelte sich in Überraschung und dann in ein belustigtes Grinsen. Hannah stand neben einem der am Boden liegenden Männer und zog sich gerade eine viel zu große Jacke mit Camouflage-Muster an. Sie reichte ihr fast zu den Knien und die hochgekrempelten Ärmel rutschen immer wieder nach unten. Der Mann zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen, während er versuchte sich von seinen Duck Tape-Fesseln zu befreien. Seine Kameraden sahen ihm nur mitleidig dabei zu. Sie hatten es aufgegeben, sich gegen die Knebel und Fesseln zu wehren.
Hjördis hockte neben einer Metallkiste und wühlte darin herum. Auch sie trug eine der Jacken und hatte die Kapuze aufgesetzt. Eine hellbraune Strähne lugte darunter hervor.
„Die hier sollte dir passen.“, sagte sie ohne aufzusehen und warf Karu eine dicke Hose zu, ebenfalls in Winter-Camouflage. Er fing sie unbeholfen auf und streifte sie sich über seine eigene alte Hose. Es war dadurch etwas zu eng, aber es hielt die Kälte ab.
„Gute Idee,“ lächelte er und nahm auch noch eine Jacke entgegen. Die Winterausrüstung der Männer war gut, sehr gut sogar. Was hatte er auch erwartet? Dass die Western Oil Company ihr Vertuschungskommando schlecht ausrüstete?
„Die Stiefel passen nicht,“ meldete sich Hannah. Karu drehte sich zu ihr um und schmunzelte. Die Stiefel, die sie wohl aus der Kiste neben sich genommen hatte, waren vier Nummern zu groß und wirkten an ihr wie Clownslatschen.
„Gibt es kein kleineres Paar?“, fragte er belustigt und warf einen Blick in die Kiste.
„Nein. Hast du dir die Typen mal angeguckt? Die sind alle mindestens einen Kopf größer als ich,“ beschwerte sich Hannah.
„Stopf das vorne rein,“ meldete sich Hjördis zu Wort und drückte ihr ein Paar Socken in die Hand.
„Das ist doch ekelhaft!“, sträubte sich Hannah. „Wer weiß, wer die schon anhatte.“
„Das sind Socken und keine Uranbrennstäbe,“ erwiderte Hjördis streng. „Besser das als Frostbeulen. Außerdem sind sie gewaschen.“
Karu hätte sich Hannah gerne angeschlossen, aber das Wohlbefinden seiner Füße war ihm dann doch lieber als sein Bedürfnis nach Hygiene. Außerdem wirkten die Socken tatsächlich frisch gewaschen – sie dufteten leicht nach Lavendel – und er schenkte den Männern einen anerkennenden Blick zu. Er stopfte sie in ein paar Stiefel und schlüpfte hinein. Sie passten zwar nicht optimal, würden aber ihren Zweck erfüllen.
Anschließend durchstöberten sie die restlichen Kisten und räumten Dinge in ihre Rucksäcke, die sie selbst gebrauchen konnten. Hauptsächlich stockten sie ihre eigenen Vorräte mit Energieriegeln und Tütensuppen auf.
Die anderen beiden hatten den Wagen bereits verlassen und Karu wollte es ihnen gerade gleichtun, als er sein Blick an einer kleineren Kiste hängen blieb. Wie die anderen war sie ebenfalls aus Metall und wies einige Beulen und schrammen auf. Ihm war die ganze Zeit nicht wohl dabei gewesen, als sie die Sachen geplündert hatten, doch er wollte wissen, was sich in dieser Kiste befand.
Der Verschluss klemmte und er musste viel Kraft aufwenden, bis er sie schließlich geöffnet hatte. Als er hineinsah, schluckte er. Handfeuerwaffen und Munition fein säuberlich in ihren Schachteln. Eine der Pistolen war sogar dasselbe Modell wie er es selbst in seinem Rucksack mit sich führte. Das selbe Modell mit dem Hjördis geschossen hatte. Er schauderte und wollte die Kiste schließen, aber etwas blitze zwischen den Munitionsschachteln auf. Er schob sie beiseite. Darunter befand sich ein langes Jagdmesser, das halb aus seiner Scheide gerutscht war. Die Klinge funkelte ihn brutal an. Zögernd nahm er es aus der Kiste. Im Fort hatte er mit einem Schwert trainiert, aber das konnte er verständlicherweise nicht mit nach Japan nehmen. Das Messer war nicht das gleiche, aber stellte eine gute Alternative dar.
Hinter ihm stöhnte jemand und Karu fuhr herum. Einer der Männer, der bisher ruhig geblieben war, warf ihm einen mörderischen Blick zu. Das ist kein Spielzeug für Kinder, schien er zu sagen, Das ist mein Messer. Wehe du nimmst es.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, sprang Karu aus dem Wagen und trat die Tür hinter sich zu. Das Messer verstaute er sicher in seinem Rucksack.
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World of Mystic
Science FictionDie Welt, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr. Europa wurde in Stücke gesprengt und Asien steht in Flammen. Nordamerika und Russland sind zu einem gigantischen Waldgebiet verschmolzen. Mittendrin einige Jugendliche, die dem Chaos auf den Grund...