Von 8Lilian8
Josiah saß auf seinem Bett und starrte auf die tickende Uhr an der Wand. 12:21.
Um halb eins gab es Mittagessen im Speisesaal. Auch wenn „Saal“ vielleicht etwas übertrieben war: Mehrere runde Tische mit je vier bunten Plastikstühlen, dämmriges Licht, stickige Luft. Der Raum hatte viel zu viel Ähnlichkeit mit der Cafeteria seiner Schule in Seattle. Er hatte Angst, dass er in Tränen ausbrechen würde vor lauter Heimweh, wenn er ihn beträte.
12:23. Der Sekundenzeiger drehte sich unaufhörlich. Josiah fragte sich, wie lange er sich noch drehen würde. Wenn er alles richtig verstanden hatte, stand die Welt kurz vor dem Ende. Und Josiah sollte dabei helfen, das zu verhindern. Es klang wie der reine Wahnsinn. Was sollte er schon dagegen tun können? Er, der sogar von den 14-jährigen Mädchen beim Schwertkampf besiegt wurde.
12:25. Er musste zugeben, dass er durchaus versucht gewesen war, das Fort wieder zu verlassen. Der Gedanke, zurück nach Seattle zu gehen und seine Familie zu suchen, war verlockend. Wo mochte sie nur sein? Immer wieder musste er an den Tag denken, als er von der Schule heimkam und zu Hause weder seine Eltern noch seine Brüder Lucas und Elijah auffinden konnte. Sie hatten jeden Tag auf ihn gewartet, aber an diesem Tag war sowieso nichts normal gewesen. Er erinnerte sich an den Moment, als der Direktor seiner Schule um die Mittagszeit einfach in den Unterricht geplatzt war und die Schüler nach Hause geschickt hatte. Niemand hatte sich über den freien Nachmittag gefreut, alle waren sie viel zu verwirrt gewesen.
Die Stadt hatte sich in ein einziges Chaos verwandelt. Die Straßen waren überfüllt gewesen – noch überfüllter als sonst. Jeder hatte eilig seine Koffer gepackt und die Stadt verlassen – wohin die Menschen fuhren, wussten sie selbst nicht.
Inzwischen wusste Josiah, dass die Leute aus Angst geflohen waren. Aus Angst, auch Seattle würde überflutet werden, aus Angst, auch Amerika könnte verbrennen.
12:28. Der Weg in den Speisesaal war nicht lang. Man musste nur die Treppe hinunter- und den Gang ein Stück entlanglaufen. Ob sie auf ihn warteten? Josiah dachte an die vielen Jugendlichen in seinem Alter, die genauso verrückte Fähigkeiten hatten wie er. Trotzdem fühlte er sich nicht wohl unter ihnen. Sein Zuhause war nicht hier. Es war viele Meilen entfernt, an der Küste des Pazifiks.
Im Zimmer war es still. Sein Zimmergenosse, Karu, war vermutlich schon unten beim Essen. Josiah mochte ihn, auch wenn sie nicht viel miteinander sprachen.
12:29. Josiah erhob sich seufzend. Auf der Treppe nahm er immer zwei Stufen auf einmal. Seine Schritte hallten im Gebäude wieder. Im Flur war es genauso still wie in seinem Zimmer. Vor der geschlossenen Tür zum Speisesaal blieb er stehen. Durch die hölzerne Tür drangen gedämpfte Stimmen zu ihm. Er drückte die Klinke und schlüpfte in den Raum. Ein paar Jungen und Mädchen sahen kurz zu ihm auf, die meisten kümmerten sich nicht weiter um ihn.
Josiah schnappte sich einen Teller mit einer seltsam riechenden Pampe, die man mit viel Fantasie als Auflauf bezeichnen konnte und ließ sich auf einen Stuhl neben Karu fallen.
Am Tisch saßen noch zwei weitere Mädchen. Eine war ungefähr so alt wie er und schien komplett in Gedanken versunken. Unter ihren fast schwarzen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab.
Das andere Mädchen war jünger, vielleicht dreizehn, und musterte ihn neugierig.
„Hallo“, sagte sie schließlich. „Ich heiße Hannah. Und du?“
„Josiah“, antwortete er zerstreut.
Sein Nacken kribbelte. Er konnte die Spannung in diesem Raum spüren. Sein Blick fiel wieder auf das ältere Mädchen. Ihre schwarzen Locken fielen ihr ins Gesicht, was sie nicht zu stören schien. Josiah lief ein Schauer über den Rücken. Das Mädchen strahlte eine solche Trauer und Verzweiflung aus … Er sah schnell weg. Das Problem war, er konnte ihre Gefühle nicht nur erahnen – er spürte sie wirklich. Josiah brauchte einen Menschen nur anzusehen, um dessen Stimmung zu erfassen. Kein Wunder, dass er hier so häufig allein war. Wer wollte schon mit jemandem befreundet sein, der ihn auf den ersten Blick durchschaute?
Hannah quasselte immer noch. Er versuchte sich auf ihre Worte zu konzentrieren. Ihr Englisch war grauenhaft.
Alle Gespräche verstummten als am Tisch der Erwachsenen ein Stuhl gerückt wurde. Mr Cummingfield war aufgestanden und sah in die Runde.
Josiah brauchte keine Gefühle zu lesen, um seine Nervosität zu bemerken. Der Schwertkampftrainer räusperte sich.
„Wir sind übereingekommen ...“, begann er langsam, „dass wir vierzehn von euch auf Mission schicken werden, um die Ursache für dieses Chaos herauszufinden. Wir haben die Wahl sorgfältig getroffen. Dies ist die letzte Chance für euch – die allerletzte Chance – auszusteigen. Ihr müsst euch bewusst sein, dass ihr euer Leben riskiert, wenn ihr an dieser Expedition teilnehmt.“ Er sah auf. Es war so still, man hätte eine Stecknadel fallen hören. Alle hingen an seinen Lippen. „Nun gut.“ Mr Cummingfield zog einen zerknitterten Zettel hervor und studierte ihn eingehend.
Ein Raunen ging durch den Saal. Auf diesem Zettel standen vierzehn Namen. Die Namen derjenigen, die in den nächsten Tagen die Welt retten würden – oder bei dem Versuch sterben.
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World of Mystic
Science FictionDie Welt, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr. Europa wurde in Stücke gesprengt und Asien steht in Flammen. Nordamerika und Russland sind zu einem gigantischen Waldgebiet verschmolzen. Mittendrin einige Jugendliche, die dem Chaos auf den Grund...