Schmetterlingseffekt

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Seitdem die ersten Satellitenbilder von der gigantischen Aschewolke über dem ehemaligen Europa durchs Netz gegangen waren, hatte Karu nicht mehr richtig geschlafen. Josiah auch nicht, aber das würde dieser nie freiwillig zugeben. Karu wusste es auch nur, weil sie beim Verlassen ihres Zimmers kurz aneinander gestoßen waren und er die Erinnerung an eine durchwachte Nacht erlebt hatte. 
Dabei war die Aschewolke nur ein Hintergedanke gewesen. Vor allem seine Eltern, beschäftigten Josiah. Seine Eltern, die ohne ihn aufgebrochen waren. 
Das fand Karu auf beunruhigende Art belustigend. Er und sein Zimmergenosse waren gar nicht so verschieden. Nur hatten seine Eltern ihn bereits kurz nach seiner Geburt verlassen und nicht erst Jahre später. 
Die Familien der Anderen waren durch die Katastrophen auseinandergerissen worden. Ob durch Tod, Massenpanik oder einfach durch die Einberufung der Kinder. Nur er war seinen Eltern ein Stück näher gekommen. Näher al je zuvor. Von Arkansas nach Texas war es nur ein Katzensprung. Oder ein Flügelschlag. 
Warum er gerade jetzt, während er die Treppe in den Keller suchte, darauf kam, wusste Karu selbst nicht. Vielleicht weil ihn der schlierige Himmel an die Flügel eines Schmetterlings erinnerten. An Nicola's Schmetterling der Stürme, der in Brasilien mit den Flügeln schlug und somit einen Hurrikan in Texas auslöste. Seine meteorologiebegeisterte Exfreundin liebte diese Art von Gedankenspielen. Eins führte zum Anderen, führte zum Anderen. Eine minimale Abweichung veränderte das gesamte System. 
Karu seufzte. Genauso war es auch jetzt, genauso war es auch mit der Katastrophe. Und er war einer von denen, die den Schmetterling finden sollten. Und dafür musste er offenbar in den Keller. Josiah hatte es ihm heute Morgen nach dem Frühstück gesagt. Statt sich weiterhin von Mr Cummingfield und Mademoiselle Dupin mit einem Übungschwert verdreschen zu lassen, war er wie alle Übersechzehnjährigen in den Keller beordert worden. 
Als er die Stufen hinunterging, rieb er sich die blauen Flecken auf seinen Armen. Schwertkampf hatte er sich ganz anders vorgestellt. Wie alle anderen auch. Als sich Carol während der ersten Gemeinschaftsübung gemeldet hatte und meinte, sie könne schon mit dem Schwert kämpfen, hatte Mr Cummingfield sie einfach entwaffnet und zurück auf ihren Platz geschickt. Das sei nicht so wie in den Filmen, hatte er gesagt, und auch nicht wie sie es euch beim Fechten beibringen. Diese Art des Kampfes eigne sich nur, wenn sich der Gegner an die Regeln halte und im echten Leben sei das nie der Fall. Es gebe nur zwei Arten ein Schwert richtig zu halten, vorne und hinten, und vorne sei meistens auch falsch. Dazu kamen noch drei Arten des effektvollen Kämpfens: Schneiden, Stechen, Schlagen. Im Grunde sei das Schwert die unkomplizierteste Waffe seit dem Faustkeil. 
Bis jetzt bestand Karus Training fast ausschließlich aus Kraft- und Ausdaueraufbau mit kleinen Exkursen in die Anatomie. Für die Feinheiten des Entwaffnens und der Tricks war Mademoiselle Dupin zuständig und die brachte Karu erst richtig ins Schwitzen. Erneut strich er über den Bluterguss an seiner rechen Schulter. 
Stimmen schollen Karu aus dem von Neonröhren beschienenen Gang entgegen. Er war nicht der Letzte, der zu der Gruppe stieß. Sie warteten alle vor einer graugrün lackierten Eisentür 
„Wo ist Hjördis?“, fragte er Josiah, der sich gerade mit Sol über Videospiele unterhielt. Ein Thema, das ihn nie wirklich interessiert hatte. Schon allein deshalb, weil seine Familie keinen Computer besaß. 
„Keine Ahnung.“, sagte Josiah, als er sich zu Karu umdrehte und mit den Schultern zuckte, „Vermutlich...“ 
„Die macht eh, was sie will.“, unterbrach ihn in diesem Moment Django, „Und ich wette mit euch, sie hat meine Schokolade gestohlen.“ 
„Hör mit deiner verdammten Schokolade auf, die hast du eh selbst gegessen, es aber wieder vergessen.“, schnauzte Hope den Kanadier an. 
Karu verkniff sich ein Lachen. Ganz so war es nicht gewesen. Er hatte sich die Schokolade geteilt, nachdem Hjördis sie aus Djangos Zimmer gestohlen hatte. Sie waren gerade gemeinsam zurück vom Survivaltraining zu ihren Räumen gegangen, als Hjördis plötzlich innegehalten hatte und in ein fremdes Zimmer gelaufen war. Sie war mit einer blauen Packung Schokolade zurückgekommen und hatte sie Karu in die Hand gedrückt. Die Schokolade hatte sehr lecker geschmeckt. 
Die schwere Eisentür, die sich in diesem Moment öffnete, verhinderte eine schwere Auseinandersetzung zwischen Hope und Django. Miss Coulson stand in der Tür und winkte sie mit einem kalten Lächeln, das Karu einen ebenso kalten Schauer über den Rücken jagte, in einen großen Raum mit nackten Betonwänden. 
Verwirrt sah Karu sich um. Er hatte nicht gewusst, dass dieser Raum existierte. Große Stahlschränke, allesamt mit einem Zahlenschloss bestückt, erstreckten sich an einer Seite. Doch erst als er die offenen Parzellen und die Schießscheiben in Form von Menschen sah, dämmerte es ihm, wo er sich hier befand. 
Aaron hinter ihm pfiff beeindruckt durch die Zähne. „Ich wusste, ihr habt hier noch richtige Waffen.“ 
Coulson verdrehte die Augen und schritt zu einem der Schränke. Sie gab eine Kombination ein und die Tür sprang auf. Als sie ihre Hand aus dem Schrank zog, hielt sie einen schwarzen Kasten in der Hand. Daraus entnahm die Trainerin einen Pistole und hielt sie Sol entgegen. 
Das Mädchen nahm sie ohne zu zögern und betrachte die Waffe ehrfurchtsvoll. 
„Erster Fehler.“, schnauzte sie Coulson an. Sol fuhr zusammen und Karu konnte es ihr nicht verdenken. 
„Immer erst nachsehen, ob die Waffe geladen oder gesichert ist.“, die Trainerin nahm Sol die Waffe wieder ab und deutete auf einen unscheinbaren Hebel an der Seite. Sie betätigte den Hebel und ein leeres Magazin fiel aus der Waffe. 
„Das ist eine Heckler&Koch P30. 15 Schuss, 740g schwer. Mit dieser Waffe werdet ihr die nächsten Tage trainieren.“, erklärte Coulson, während sie ein volles Magazin in die Waffe schob. Dann trat sie an einen der Schießstände und feuerte einmal auf die Zielfigur. Der Knall hallte durch den Raum und klingelte in Karus Ohren. 
Er sah zu der Zielfigur und ihm stockte der Atem. Kopfschuss, mittig auf der Stirn. 
„Glotzt nicht doof!“, fuhr Coulson die Gruppe an, „Ich werde euch den Aufbau einmal erklären und ihr werdet die nächsten Tage noch genügend Zeit haben, euch weiter mit der Wartung zu beschäftigen. Aber jetzt nimmt sich jeder eine Waffe und macht genau das nach, was ich jetzt vormache.“ 
Mit diesen Worten holte sie weitere Kästen aus dem Schrank und reichte jeden von ihnen einen. Karus Hände zitterten leicht, als er die Pistole herausnahm und unter Coulsons Anleitung lud. Das Polyamid fühlte sich schwerer an, als es tatsächlich war und er hätte die Waffe am liebsten sofort zurückgelegt, doch Coulson hatte sein Zögern bereits bemerkt. 
„Nicht so zaghaft, Hernández! Mit beiden Händen. Das ist eine Waffe und kein Kätzchen.“ 
Karu schluckte und packte die Pistole fester: „Warum lernen wir Schwertkampf und Bogenschießen, wenn wir sowieso an modernen Waffen ausgebildet werden.“, fragte er vorsichtig. Er glaubte schon, etwas falsches gesagt zu haben, als Coulson ihm einen durchdringenden Blick zuwarf und schwieg. 
„Sie machen das Töten viel zu leicht.“, antwortete sie schließlich und schlug die Augen nieder. 
Jetzt war Karu noch verunsicherter. Diese Unsicherheit verschwand auch dann nicht, als Coulson ihn und die Anderen zu den Schießständen schickte und sie anwies, die Ohrschützer anzuziehen. Seine Hände schwitzten, während er auf die menschliche Pappfigur ihm gegenüber zielte. Sein Finger krümmte sich um den Abzug. 
Trotz der Ohrschützer hallte der Schuss unnatürlich laut in seinen Ohren. 
Es war ein furchtbares Gefühl.

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