Geisterfeuer

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Kallik hätte nie gedacht, dass sie so weit gehen würden. Sie gaben eine Hälfte der Stadt auf um die andere Hälfte zu retten. Schön und gut. Aber wie sie es taten, war eine der Verzweiflung entsprungene Kurzschlussreaktion. 
Er warf einen Blick zu Marina und schüttelte den Kopf. Sie sah zu Boden. Chloé war irgendwo da draußen, während das Militär sich alle Mühe gab, alles Brennbare auf dieser Seite des Flusses zu verbrennen, bevor das Geisterfeuer es tat. Wenn nichts mehr da war, das brennen konnte, konnte sich auch das Feuer nicht weiter ausbreiten. 
Sie haben aufgegeben, dachte er, Sie haben gesehen, was mit Pjöngjang und den anderen Städten geschehen ist und greifen zum letzten Mittel. Wenigstens haben sie vorher evakuiert. 
Erneut donnerte es. Durchs Oberlicht des Kellers sah er einen Flammenball gen Himmel steigen. Ein Großteil der Gebäude weiter nördlich brannte bereits. Ob es das Geisterfeuer oder die Brandsätze waren, konnte er auf diese Entfernung nicht sagen. 
Kallik schloss die Augen und löschte ein weiteres Feuer in der Nähe des Gebäudes, indem sie sich verschanzt hatten. Ein leichtes Lächeln verirrte sich auf sein Gesicht, als er sich vorstellte, was die Piloten in ihren Helikoptern wohl denken mussten. Wunderten sie sich, warum sich dieses Haus hartnäckig weigerte, in Flammen aufzugehen oder hatten sie in der Rauchwolke, die über der Stadt hing, die Orientierung verloren? 
„Sie kommen,“ sagte Newt in die angespannte Stille hinein. „Zumindest bewegt er sich in unsere Richtung.“ 
„Wo!“, Marina sprang auf. Ihre Augen funkelten wild. 
„Acht Straßen weiter beim Einkaufszentrum,“ erwiderte der Junge. „Dort brennt es schon.“ 
Marina rannte zur Kellertür und riss sie auf. Kalte Nachtluft strömte in den Raum und Kallik sah wie die anderen fröstelten. Er hielt Marina am Arm zurück. „Lass mich gehen,“ sagte er leise. 
Sie schüttelte den Kopf und trat auf die Treppe. 
„Marina, das ist zu gefährlich für dich,“ redete er auf sie ein. 
„Ich muss,“ flüsterte sie. Im Zwielicht glitzerten ihre Tränen. 
„Zusammen,“ lächelte er traurig und ließ ihren Arm los. Er drehte sich zu den Jugendlichen um: „Wir sind ald wieder zurück. Wenn nicht, versucht zum Fluss zu kommen.“ Dann folgte er Marina die Treppe hinauf. 

Das Einkaufszentrum stand lichterloh in Flammen als sie eintrafen. Strahlende Finger gruben sich in die Nacht, spielten eine knisternde Melodie auf einer Klaviatur, die nur sie kannten. Wären die Umstände andere hätte Kallik diesen Anblick genossen. 
Stattdessen löschte er einen brennenden Baum, der vor ihnen auf der Straße lag und sprang darüber. Auf der anderen Seite an eine Hauswand gelehnt, erwartete Beißer sie. Als er sie entdeckte, sprang er auf und ging in Angriffsposition. Kallik musterte ihn. Als er Jeon Gyeong das letzte Mal gesehen hatte, war er halb so alt als heute gewesen, vielleicht sechzehn, siebzehn Jahre. Er war kräftiger geworden und seine Gesichtszüge scharfer, doch der stolze Blick war geblieben. 
„Ihr!“, fauchte Gyeong. 
„Wir,“ sagte Kallik. 
Der Mann nickte zu Marina: „Erde oder Wasser?“ 
„Wasser,“ antworte Kallik für sie. 
„Gut. Erde konnte ich nie leiden,“ entgegnete Gyeong kalt. Seine Kleidung wies Brandspuren auf erkannte Kallik beim näheren hinsehen. 
„Ich werde es ihr ausrichten. Wir übernehmen ab hier.“ 
Gyeong trat einen Schritt zur Seite und offenbarte so einen kleinen in sich zusammengesunkenen Körper. Marina gab einen gequälten Laut von sich und rannte zu Chloé. Auch Kallik trat näher und zog scharf die Luft ein. Im Schein der Flammen wirkte Chloés Haut aschfahl. Ihr Atem ging schnell und unregelmäßig. Der beißende Geruch von verbrannten Fleisch stieg von ihrem rechten Arm auf. Wundflüssigkeit war durch den provisorischen Verband gesickert. 
„Den Anderen hat es erwischt. Er stand mitten auf der Straße, als das Feuer runterkam,“ erklärte Gyeong mit einem Blick auf Chloé. „Ihre Hand könnt ihr vergessen. Falls ihr es in den nächsten paar Stunden nicht in ein Krankenhaus schafft, könnt ihr sie komplett abschreiben.“ 
„Sie stirbt nicht,“ murmelte Marina. 
„Macht euch nicht zu große Hoffnungen,“ erwiderte er und Kallik konnte Marina gerade noch davon abhalten, sich auf ihn zu stürzen. 
„Sie wird nicht sterben!“, brüllte sie ihn an. Ein Hydrant in der Nähe explodierte und löschte einige brennende Sträucher am Straßenrand. Der Deckel krachte mit lautem Scheppern zu Boden. 
„Ich sehe schon: Kein gutes Thema,“ Gyeong zuckte mit den Schultern. 
„Warum hast du sie gerettet?“, fragte Kallik. 
Gyeong schwieg und sah auf die beiden Mädchen hinab. Als er aufsah, spiegelte sich das Feuer in seinen Augen. „Es sind Dinge passiert, die nicht hätten passieren dürfen. Das hier,“ er machte eine ausschweifende Geste, „ist grundlegend falsch. Ganz gleich, was in der Vergangenheit vorgefallen ist, ich wünsche niemanden zu verbrennen.“ Er wandte sich zum Gehen. 
Verbrennen, schoss Kallik durch den Kopf, Menschen tun schreckliche Dinge mit Feuer. Er ließ eine kleine Flamme in seiner Hand entstehen und wartete auf den Schmerz. Sanftes Prickeln breitete sich zwischen seinen Fingern aus, aber nicht mehr. Er ballte die Hand zur Faust und erstickte das Feuer. 
Gyeong war bereits ein gutes Stück von ihnen entfernt, als Kallik rief: „Danke!“ 
Erst glaubte Kallik, der Agent von SIA habe ihn nicht gehört, bis Gyeong in der Bewegung verharrte. Er drehte sich nicht um, sondern blieb als Statue stehen. Kallik konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber er wettete damit, dass sich ein schwaches Lächeln auf seine Lippen stahl. „Das war das erste und einzige Mal!“, rief er. Dann verschwand Beißer humpelnd in die Nacht. 

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