Tyrfing

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Der Mensch besteht aus der Summe all seiner Erinnerungen. Dieser Gedanke hatte Karu immer Angst gemacht, denn er bedeutete, dass er selbst kein Individuum war, sondern viele Menschen, die zufällig denselben Typen berührt hatten. Jetzt fand er Trost in der Vorstellung, dass Hjördis noch immer da war. Es waren nicht ihre schönsten Erinnerung, aber wichtige. 
Erschöpft starrte er auf die beiden Steinhaufen, auf denen sich langsam Schnee sammelte. Der Boden war zu hart, um Gräber auszuheben, weshalb Hannah und er Steine aus dem Bach zu Grabhügeln aufgeschichtete hatten. Rechts Amechi, links Hjördis. Sie waren zum Fluss hin ausgerichtet; den beiden würde die Aussicht gefallen. 
Hannah Hand war kalt und sie zitterte. Karu wusste, dass es bei ihm nicht anders war. Er drückte sie leicht und zuckte zusammen. Den improvisierten Verband hatte er seit heute Morgen, als er angelegt wOrden war, nicht erneuert. Der Stoff war klamm und an einigen Stellen gefroren, dort wo er Wasser abbekommen hatte. Die Erinnerung an die Beerdigung von Hannahs Großvater durchströmte ihn und er schwankte leicht. 
Hannah zog ihre Hand weg und vergrub sie in ihrer Jackentasche. Seit sie die Steine geholt hatten, hatte sie kein Wort mehr mit Karu gesprochen. Das konnte er verstehen. Er hatte das Messer mitgenommen, er hatte es verloren, es war seine Schuld, dass Hjördis tot war. 
Hjördis hatte ihm einmal eine Geschichte erzählt: Sie war voller komplizierter Namen, Brudermord, Schlachten und einem magischen Schwert namens Tyrfing. Tyrfing war unglaublich scharf, robust und verfehlte sein Ziel nie. Da die Schmiede – irgendwelche Zwerge, deren Namen er vergessen hatte – erpresst worden waren, um Tyrfing zu schmieden, verfluchten sie die Klinge. Sie würde dreimaliges Unglück über ihren Besitzer bringen. Im Laufe der Geschichte kommen drei Besitzer des Schwertes durch eben jenes ums Leben. 
Das Messer war Karus Tyrfing. Es hatte zwar nicht ihn getötet, aber einen wichtigen Teil von ihm. Er hatte das Messer wieder an sich genommen, nachdem er… 
Sein Blick wanderte zum dritten Steinhaufen. Er hatte gehandelt ohne zu denken. Hjördis Schrei klang noch in seinen Ohren, als er vorgestürzt war und geschossen hatte. Diesmal waren seine Hände ruhig gewesen. Drei Schüsse. Das Messer fiel dem Mann aus den Fingern und er ging schreiend neben Hjördis zu Boden. Er hatte nicht mehr lange geschrien. 
Entsetzt hatte Karu die Pistole fortgeschleudert und war im Schnee auf die Knie gesunken. Dann hatte er geweint, geweint, geweint, bis er sich an Hannah erinnert und sich zu ihr umgedreht hatte. Sie stand genau dort, wo sie vorher auch gestanden hatte, den Mund zu einem entsetzen Oh geformt und zitternd. 
Er stand auf und stapfte an ihr vorbei. Amechi lag im Schnee, die toten Augen starr in den Himmel gerichtet. 
„Steh auf!“, hatte er sie angebrüllt. „Heil dich selbst und steh auf!“ Als sich nichts tat, rüttelte er an ihrer Schulter, bis Hannah ihn von ihr wegzog. Gemeinsam fielen sie zu Boden und blieben liegen. 
Nun ging hinter ihnen die Sonne unter. Karu würde alles dafür geben, wenn es ein richtiger Sonnenuntergang wäre, einer bei dem der Himmel zu Feuer wurde und die Welt in seltsam goldenes Licht tauchte. Stattdessen war es nur das Schwinden von Licht. 
Ich hoffe ihr seid an einem Ort, an dem der Schnee weiß ist und es Sonnenuntergänge gibt, dachte Karu und wandte sich ab. Er wartete nicht auf Hannah, sondern stapfte mit hängenden Schultern zur Höhle zurück. Jeder Schritt war ein Sprung über den Abgrund. 

In der aufziehenden Nacht war die Höhle ein gähnendes Maul. Karu quetschte sich durch den Spalt und tauchte in die Dunkelheit. Er stolperte über einen weichen Gegenstand und fiel ins Laub. Ein spitzer Stein bohrte sich in den Verband seiner Hand. Scharf zog er die Luft ein, während Sterne vor seinen Augen tanzten. 
Karu taste nach seinem Rucksack und nahm die Taschenlampe aus einem Seitenfach. Flackernd - als stände die Lampe vor einer Menschenmenge und müsste unerwartet eine Rede halten – sprang sie an. Lange hält der Akku nicht mehr. 
Im schwachen Strahl der Taschenlampe sah Karu den Rucksack, über den er gestolpert war. Das verwaschene Dunkelgrün voll Wasser- und Matschflecken trieb ihm einen Keil ins Herz. Er lehnte sich mit dem Rücken an den Fels und starrte auf den Rucksack. Vielleicht gab er ein Geheimnis preis, irgendeine Antwort, die ihm half zu verstehen, was heute geschehen war. 
Bevor der Rucksack jedoch zu sprechen begann, zwängte Hannah sich atemlos durch den Höhleneingang. 
„Du kannst mich doch nicht einfach alleine dort stehen lassen!“, brüllte sie ihn an. Ihre Stimme überschlug sich und zerbrach. 
Schuldgefühle stiegen erneut in Karus Brust. Sie ist erst dreizehn, Mann! Was hast du dir dabei gedacht!, schnauzte ihn sein Gewissen an. 
„Es, es tut mir leid,“ stammelte er und wich ihrem Blick aus. Der Felsen stach hart gegen seinen Rücken. 
„Es tut dir leid! Was wäre, wenn da noch mehr von diesen Typen herumlaufen würden oder ein Bär oder ich mich verlaufen hätte! Du hast mich bei ihnen allein gelassen!“, fauchte sie und trat einen Stück näher auf ihn zu. 
Karu schwieg. Die Worte steckten ihm im Hals, doch er konnte seine Zunge nicht rühren. 
Der Schlag traf ihn hart und unerwartet. Zum zweiten mal krachte er zu Boden. Blut sammelte sich in seinem Mund und er spuckte einen Zahn aus. Hannah schüttelte ihre Hand aus. 
„Bist du jetzt fertig?“, stöhnte er und wischte sich über die Lippen. 
„Lass mich nie wieder ein,“ sagte Hannah und ihr Zorn verwandelte sich in ein Schluchzen. Ein Beben wanderte durch ihren Körper, als Karu sie in den Arm nahm. 
„Nie wieder,“ versicherte er ihr nuschelnd. Wir sind eine Familie. 
„Ist das Hjördis Rucksack?“, fragte Hannah nach einer Weile und löste sich von ihm. 
Karu nickte. 
„Schauen wir rein?“ 
Nein, das kann ich nicht, schrie alles in ihm. „Wir brauchen die Vorräte,“ sagte er stattdessen. 
Hannah zog den Rucksack an sie heran und öffnete das Hauptfach mit spitzen Fingern. Karu sah ihr dabei zu, wie sie die letzten Vorräte – eine Tütensuppe und die letzte Zwölferpackung Energieriegel herausnahm. Zusammen mit den paar Vorräten, die er noch hatte, würden sie es drei Tage durchhalten. In vier Tagen würde sie Kolja abholen. Falls alles gut ging. 
Als Hannah weiterkramte, legte Karu ihr eine Hand auf den Arm. 
„Nicht,“ sagte er leise. 
Sie blickte ihn verwirrt an, hörte aber auf. 
„Es hätte ihr nicht gefallen, wenn wir ihre Sachen durchwühlen,“ erklärte er. Und es fühlt sich nicht richtig an. Der Rucksack ist alles was ihr von Zuhause geblieben ist und manche Erinnerungen sollte man nicht antasten. 
„Moment, da ist etwas herausgefallen,“ murmelte Hannah und hob einen glänzenden Gegenstand neben den Überresten des Feuers auf. 
Das Foto war zerknickt und an einer Ecke eingerissen. Trotz der Wasserflecken schimmerte es im Schein der Taschenlampe. Zwei Menschen lachten in die Kamera, die sich ähnlicher kaum sein konnten. Zwar waren die Haare des Jungen blond, doch die Gesichtszüge und die blau-braunen Augen waren dieselben. 
„Ihr Bruder,“ murmelte er. 
„Arian,“ bestätigte Hannah und senkte das Foto. Sie schwiegen. 
Im Hintergrund des Bildes ragte ein Berg auf. Er stand allein auf einer Ebene und war schmal. Es war eher einen breitere Felswand als ein richtiger Berg. Er leuchtete grünbraun im Licht der abnehmenden Sonne. Weiter hinten erahnte man das Meer. 
Wir wären es ihr schuldig, dachte Karu. 

Die Brücke lag genauso vor ihnen wie Karu sie das letzte mal gesehen hatte. Nirgendwo entdeckte er die Spuren eines Kampfes. Der Schnee hatte sie wohl zugedeckt. 
Karu zögerte. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals. Hier hatte er die Lawine ausgelöst, die das Ende der Welt bedeutete. 
„Kommst du, Karu?“, rief Hannah ihm von der Mitte der Brücke aus zu. Sie lehnte an einem dünnen Baum, der sich unter ihrem Gewicht gefährlich bog. 
Karu holte tief Luft und folgte ihr. Kurz bevor sie das Ende erreichten, drehte er sich ein letztes mal um und winkte zaghaft in den Wald. Für einen kurzen Augenblick glaubte er, dass eine vertraute Gestalt zwischen den Bäumen seinen Gruß erwiderte, doch dieser Eindruck verflüchtigte sich als Hannah ihn ans andere Ufer zog. 
Die Toten sind tot. Sie grüßen niemanden mehr, dachte er traurig. 
„Wohin jetzt?“, fragte Hannah. 
„Da lang,“ entschied Karu und deutete in die Richtung, aus der sie vor einige Tagen gekommen waren. „Nachhause.“ 

Wo immer das auch war.

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