Hinter dem Ozean

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Sie wusste nicht, wann sie zum ersten mal gestorben war, geschweige denn, wann zum ersten mal geboren. Das spielte für sie auch keine Rolle. Zumindest nicht nicht häufig. Eher selten. Eigentlich nie. 
Doch als Lapis in die betrübten Gesichter der anderen Drei blickte, kam ihr zum ersten mal seit vielen Jahren wieder diese Frage hoch. 
Es war nicht so, dass Aaron und sie sich nahe gestanden hätten. Sie hatten öfters miteinander gekämpft und er war ein halbwegs passabler Gegner gewesen, aber wirklich geredet hatten sie nie. 
Karus Anruf war vor wenigen Stunden gekommen. Die Verbindung war schlecht und von Rauschen unterbrochen, doch drei Worte waren klar und deutlich über die Entfernung eines Ozeans zu hören. Aaron ist tot. 
„Es war nur eine Frage der Zeit.“, sagte sie in den stillen Raum. Die drei Köpfe drehten sich zu ihr. „Ich meine, ihr habt doch nicht ernsthaft damit gerechnet, dass alle lebend aus dieser Sache herauskommen?“ 
An der Decke erwachte der Rauchmelder zum Leben, als Kallik das Kissen, das er die letzten Stunden durchgeknetet hatte, in Flammen aufgehen ließ. Lapis hätte laut gelacht, wenn sie lebensmüde gewesen wäre. Hatten sie sich nach all der Zeit immer noch nicht daran gewöhnt? Menschen neigten nun mal dazu zu sterben und gerade jetzt starben besonders viele. Und es würde in absehbarer Zeit auch nicht aufhören. 
Ruhig schritt Lapis zum Feuerlöscher in der Ecke und richtete den Strahl auf Kallik, der sie wütend anfunkelte. „Das wagst du nicht!“, knurrte er sie an und irgendwo im Raum fing ein weiterer Einrichtungsgegenstand Feuer. Kommentarlos richtete sie den Schlauch auf ihn und bespritzte ihn mit ABC-Pulver. Das Kissen und ein Stuhl folgten. 
Hinter ihr versuchte Kallik sich hustend das Pulver aus den Augen zu reiben. Das weiße Löschmittel war auf seiner Haut geschmolzen und bildete eine Art dünnen Panzer, der bei jeder Bewegung Risse bekam. Tulio und Marina schauten nervös zwischen Kallik und ihr hin und her. 
„Wie kann man nur so herzlos sein?“, hörte Lapis schließlich Marina leise fragen. Das Mädchen saß unterm Fenster mit dem Rücken zur Heizung, einige blonde und grüne Strähnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst. Ihre Augen waren gerötet. 
„Warum weinst du über einen, aber wenn ein ganzer Kontinent ausradiert wird nicht? Hört endlich mal auf, euch nur von euren Gefühlen lenken zu lassen und fangt an zu denken.“, meinte Lapis noch härter als sonst. Ich muss hart sein, denn sie sind es nicht. Aber Härte und ein kühler Kopf sind das einzig, was uns jetzt helfen kann. 
„Das einzige woran ich gerade denken kann, ist, dass du vielleicht mal wieder sterben müsstest, um Leben wieder wertzuschätzen. Verdammt Lapis, dass sind Kinder, die wir losgeschickt haben!“, fauchte Tulio sie an. 
„Sollte das eine Drohung sein?“, fragte Lapis äußerlich noch immer ruhig. In ihrem Inneren tobte stattdessen ein Sturm, ausgelöst von Tulio. Ja, es waren Kinder. Kinder, die die Hölle auf Erden durchlebt hatten, nur um wieder hineingeschubst zu werden, als sie gerade etwas zur Ruhe gefunden hatten. Aber egal, ob Kind oder nicht, gerade jetzt musste jeder tun, was er konnte. Sie konnten es sich nicht leisten, zu zögern oder zu verzweifeln. Sonst wäre dieser Planet endgültig verloren. 
„Nein, eine Erinnerung. Wie lange ist es her? 417 Jahre?“, Tulio hatte sich inzwischen aufgesetzt. 
„419.“, korrigiert sie ihn, „Und tu nicht so, als würdest du dich nicht erinnern. Schließlich warst du es, der...“ 
„Das war nur die Rache für Griechenland vor 5117 Jahren. Da hattest du noch nicht mal den Anstand es selbst zu machen“, fuhr er dazwischen. 
Der Sturm in Lapis legte sich etwas und beinahe hätte sie gegrinst. Sie hatte dafür gesorgt, dass er Griechenland nie vergessen würde. Leider würde sie es auch nie vergessen. Dieser Fehler würde ihr nie wieder passieren. Und das alles gehörte eh in eine Zeit, die für viele inzwischen eine eigene, mythische Welt darstellte. 
„Es spielt keine Rolle, wer wann wem was angetan hat. Können wir bitte beraten, wie wir jetzt weitermachen?“, brach Kalliks Stimme durch ihre Gedanken. Er hatte sich auf einen Stuhl gesetzt und kratzte die ABC-Schicht von seiner Haut. Um ihn herum sanken weiße Flocken zu Boden. Wäre Lapis so kindisch gewesen, hätte sie an einen Schneemann gedacht. 
„Wenigstens einer wird hier vernünftig.“, murmelte sie und erntete dafür drei bitterböse Blicke. 
„Karu meinte etwas von Satori Industries.“, warf Marina ein, „Hat jemand von euch schon mal etwas davon gehört?“ 
„Sie entwickeln Zubehör für die Raumfahrt und Raketenantriebe.“, sagte Tulio mit einem Schulterzucken. Lapis sah ihn verwirrt an. Normalerweise kannte sie alle wichtigen Firmen und nicht er. 
„Was? Ein Raketenstart ist auch nur eine kontrollierte Explosion.“, es klang beinahe wie eine Entschuldigung. 
„So einfach ist das auch wieder nicht. Karu hat noch irgendwelche Akten erwähnt. Die sollten wir durchgehen.“, sagte Lapis. 
„Die müsste Tulio dann abholen. Die japanische Post hat gerade bis aufs weitere den Betrieb eingestellt.“, rief Marina von ihrem Platz an der Heizung mit dem Blick auf ihr Tablet. 
Tulio nickte: „Dann kann ich mich vor Ort auch noch umsehen.“ 
Lapis war zufrieden. Endlich konzentrierten sie sich auf das Wesentliche. „Ich gehe die Akten dann hier durch.“ 
„Ich gehe dann zu den anderen und schaue, ob ich dort helfen kann.“, verkündete Kallik und schaffte es, ein weiteres Stück Löschmittel loszuwerden. Seine Arme waren nun fast komplett frei. 
„Sollten wir damit nicht erst mal zu Cummingfield gehen?“, fragte Marina. 
„Nein, er hat gerade selbst genug zu tun und wir müssten auch eigentlich gar nicht auf ihn hören. Eher umgekehrt.“, erwiderte Kallik. 
Er hat recht, dachte Lapis, wir kooperieren nur mit ATLAS und sind keine Angestellten. Wird vielleicht Zeit, mal wieder auf eigene Faust zu agieren. 
„Gut, dann komme ich mit. Alleine würdest du es nie schaffen.“, Marina erhob sich und setzte sich neben Tulio aufs Sofa. Lapis war froh, dass sie sich gefangen hatte. 
Tulio warf einen Blick an die Decke. „Jetzt, wo das alles geklärt ist, können wir bitte diesen verdammten Rauchmelder ausschalten!“ 

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