„Nicht mein Blut.“, waren Hjördis Worte, als Rhea sie fragend ansah. Sie musterte sie. Ihre eigene Sicht war zwar verschwommen vor verlorener Energie, doch die winzigen roten Punkte sprachen für sich.
Woher kam das Blut?
Sie konnte nicht laut fragen. Ihre Kehle fühlte sich an wie ein toter Fisch. Das Bild der lodernden Flammen hatte sich in ihre Netzhaut eingebrannt und würde wohl erst Tage später verschwinden. Sie würde aufpassen müssen, um nicht versehentlich eine Massenpanik durch nicht existentes Feuer zu verursachen.
„Wo ist Aaron?“, fragte Hibiko. Seine Stimme klang durch die Rauchschwaden in Rheas Kopf gedämpft. Suchend sah sie sich um. Doch um sie herum war nur der Wald und einige Meter hinter den Büschen der Zaun. Woher kam das Blut?
„Hjördis, wo ist Aaron?“, fuhr Django sie an. Hjördis blieb stumm. Rhea erschrak vor dem Ausdruck in den Augen des älteren Mädchens. Als hätte man mit einem Hammer gegen einen Spiegel geschlagen und sich nicht mal die Mühe gemacht, die Scherben aufzulesen. Sie kannte diesen Blick von Léandra.
„Lass sie in Ruhe.“, flüsterte Rhea schwach und versuchte ohne Hibikos Hilfe zu stehen. Selbst schwankend, umarmte sie Hjördis. Das leichte Zittern des Mädchens übertrug sich auf sie selbst und Rhea kratzte das letzte bisschen Kraft zusammen, um nicht umzufallen.
„Wir sollten los.“, sagte Newt leise, „Sie haben Suchtrupps losgeschickt, um die restlichen Insassen wieder einzufangen.“
Rhea warf einen Blick über Hjördis Schulter und sah, wie die Anderen im stillen Einverständnis nickten. Sie nahm Hjördis bei der Hand und zog sie so gut es ging hinter den Anderen. Das Mädchen folgte ihr widerstandslos ins Unterholz. Unsicher stolperte sie hinter den Django her, der unter Sols schlafenden Gewicht keuchte.
Sol. Sie war nur einmal kurz erwacht, seitdem die Anderen sie aus dem Komplex befreit hatten. Rhea glaubte aber nicht, dass sie bereits realisiert hatte, was geschehen war. Sie war sich selbst noch nicht mal sicher. Newt und Django hatten erzählt, was sie in einem der Gebäude gefunden hatten, doch in diesem Moment war sie noch zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Illusion aufrecht zu erhalten. Kurz darauf war Hjördis voller Blut in die Gruppe gestolpert und jetzt flohen sie durch den Wald, auf der Flucht vor Satori Industries.
Und sie waren nicht allein. Irgendwo zwischen den Bäumen trieben sich die anderen „Insassen“ herum, die Newt und Django versehentlich befreit hatten. Sie waren auf den falschen Knopf des Selektionsmechanismus gekommen, als sie den für Sols Zelle gesucht hatten. Das hatte erst den Hauptalarm ausgelöst.
Atemlos erreichten sie das Auto und Hibiko half Rhea dabei, Hjördis auf den Rücksitz zu bugsieren, Sie setzten Sol neben sie und Rhea quetschte sich dazu. Newt ging freiwillig in den Kofferraum.
Autofahren war noch immer ein ungewohntes Gefühl für Rhea. Es war noch nicht oft in einem Auto gewesen. Eigentlich war das hier erst ihr fünftes Mal. Noch hatte sie sich nicht entschieden, ob es ihr gefiel oder nicht.
Während der Fahrt spielte sie mit ihrem Kopftuch und sah erschöpft aus dem Fenster. Die Bäume zogen an ihr vorbei. Sie erschrak beinahe zu Tode als ein Polizeiwagen mit Blaulicht an ihnen vorbeiraste, doch er behelligte sie nicht. Im Rückspiegel sah sie, wie dichter weißer Rauch in den Nachthimmel fraß. Offensichtlich war bei Satori Industries nun ein echtes Feuer ausgebrochen. Vielleicht war es eins der befreiten Kinder gewesen? Einmal glaubte sie eine menschliche Gestalt am Waldrand entlanglaufen zu sehen. Aber im nächsten Augenblick waren sie schon daran vorbei und sie verschwendete keinen weiteren Gedanken daran.Rhea schlief ein und erwachte erst, als die Beifahrertür des Wagens zugeknallt wurde. Müde blickte sie auf und bemerkte, dass sie vor dem Hochhaus parkten, in dem Hibiko und seine Großmutter lebten. Sie taumelte verschlafen aus dem Wagen und wurde von Hibiko aufgefangen, als sie über den Bordstein stolperte.
Dichtgedrängt standen sie im Fahrstuhl, der sich langsam zuckelnd in Bewegung setzte. Die Stahltrossen quietschten leise. Rhea warf einen Blick zu Hjördis, aber die starrte nur apathisch in eine Ecke der Kabine. Unangenehmes Schweigen lag in der Luft.
Die Fahrstuhltür öffnete sich mit einem leisen „Ping“ und Rhea schob Hjördis nach draußen. Hibiko schloss die Tür auf und ein dutzend Kopf drehten sich in ihre Richtung. Ein unangenehmes Prickeln machte sich in Rheas Magen breit. Sie verabscheute Aufmerksamkeit. Dann fühlte sie sich wie an den Tag zurück versetzt, an dem sie beim Spielen mit ihren Geschwistern einen Tiger erschaffen hatte. Auf offener Straßen. Sie spürte die Schläge ihres Vaters noch immer als wäre es gestern gewesen.
Sie verdrängte die Erinnerung und ließ sich auf ihren Rucksack fallen. Schweigend hörte sie dabei zu, wie Newt und Django abwechselnd berichteten. Sol war irgendwann auf der Fahrt auch aufgewacht, konnte aber nur erzählen, was ihr passiert war, bevor sie gekidnappt worden war.
Niemand nahm die Worte in den Mund, vor denen sie sich insgeheim fürchtete. Jeder konnte sich wohl denken, was mit Aaron geschehen war. Nach gerade mal zwei Tagen war der Erste von ihnen Tod. Rhea war entsetzt über sich selbst, als sie das dachte. Als hätte sie darauf gewettet, wann jemand starb.
Hibiko unterbrach das Schweigen. „Wie wollt ihr jetzt weitermachen?“
„Wir nehmen die nächste Fähre und machen einfach... weiter.“, sagte Josiah betreten und sah auf seine Füße. Rhea hätte ihn am liebsten angeschrien. Wie konnten sie einfach weitermachen? Aaron war tot, weil er in einer Firma, die Experimente mit Menschen machte erschossen worden war. Eine von ihnen stand noch immer unter Schock und niemand konnte zu ihr durchdringen. Inzwischen standen sie vermutlich auf der Fahndungsliste der Polizei und vermutlich auch auf der von besagter Firma. Wie konnten sie auch nur daran denken, weiterzumachen?
Doch sie schwieg. Wie immer.
Die Badezimmertür öffnete sich und Rheas stummer Zorn verwandelte sich in Überraschung, als Hjördis mit nassen Haaren und sauberen Klamotten ins Wohnzimmer trat. Ihre Haare wirkten beinahe schwarz. Alle Blicke ignorierend setzte sie sich neben Rhea.
„Ich werde nicht mitkommen.“, durchbrach sie schließlich die Stille. Ihre Stimme klang fest und keine Scherbe lag darin.
„Wie... wie meinst du das?“, fragte Chloe schließlich.
„Ich gehe nach Russland. In den Städten bringe ich euch nichts.“
„Ich komme mit.“, hörte Rhea jemanden sagen. Erst als sie sich suchend umgesehen hatte, realisierte sie, dass sie selbst es gewesen war. Sofort heftiges Getuschel aus.
„Nein.“, unterbrach Hjördis die Anderen bestimmt, „ Du bleibst hier. Du bist eine der wenigen von uns, die eine asiatische Sprache sprechen.“
Geknickt senkte Rhea den Kopf. Daran hatte sie nicht gedacht.
„Ich komme mit.“, meinte Karu. Sein Blick war auf den Boden geheftet und Rhea glaubte, dass er ihr auszuweichen versuchte.
„Hannah sollte auch mitgehen. Sie ist dir jüngste.“, meldete sich Tayo auf gebrochenem Englisch zu Wort. Das erstaunte sie. Bis jetzt hatte der Junge noch nie viel gesagt. Das lag vielleichtauch daran, dass er Englisch erst im Fort gelernt hatte.
„Hallo! Ich kann für mich selbst reden.“, fuhr Hannah ihn an, „Ich bin kein kleines Kind mehr und ich gehe mit nach Thailand.“
„Korea.“, funkte Léandra dazwischen.
„Wie auch immer. Ich gehe mit den Anderen.“
„Er hat recht, Hannah. Du bist die Jüngste und Russland ist am ungefährlichsten.“, meinte Hope mit sanften Nachdruck.
„Ihr könnt mich nicht dazu zwingen.“, sagte Hannah und Rhea hört deutlich die trotzige Verzweiflung in ihrer Stimme. Sie hatte Mitleid mit ihr. Sie war nicht viel älter als und wusste ganz genau wie es sich anfühlte von den anderen als zu jung und zu schwach abgestempelt zu werden. Schließlich war das auch der Grund, warum man heute nicht den Zaun überqueren durfte. Das und ihre Fähigkeit natürlich.
„Wir könnten dich nicht auf die Fähre lassen.“, warf Django ein.
„Das schafft ihr eh nicht.“, rief Hannah wütend und erntete einen anklagenden Blick von Hibiko der einen Finger auf den Mund legte und zur Tür deutete hinter der seine Großmutter schlief. Sichtlich frustriert stampfte Hannah einmal mit dem Fuß auf und stürmte in die Küche. Kurz überlegte Rhea, ob sie ihr folgen sollte, doch beschloss, dass Hannah jetzt wohl ihre Ruhe brauchte.
„Dann ist es beschlossene Sache?“, fragte Josiah in die Runde.
Alle nickten.Der Hafen war in Frühnebel getaucht und kaum ein Mensch war auf den Pieren unterwegs. Die Fischerboote waren bereits alle ausgelaufen und würden erst in einigen Stunden mit ihrem morgendlichen Fang zurückkehren. Auf den Relingen der verbliebenen Schiffe und auf der Kaimauer schliefen einige Möwen, den Kopf unter den Flügeln verborgen. Es war kühl und nur das Wasser, das gegen die Bootswände schlug durchbrach die Stille.
„Pass auf dich auf, ja?“, sagte Hjördis leise zu Rhea und umarmte sie. Rhea nickte und erwiderte die Geste. Sie war noch immer traurig und auch etwas wütend, dass sie nicht mit nach Russland durfte. Anders als Hannah, die gerade versuchte sich auf die Fähre zu schleichen, aber von Newt und Tayo zurückgehalten wurde.
Das Schiffshorn erschallte und Rhea spürte wie Hjördis zusammenzuckte. Einige Möwen stoben unter empörten Gekreische auf.
„Ihr müsst jetzt los, sonst fährt sie noch ohne euch ab.“, sagte Hjördis und Rhea löste sich aus der Umarmung. Sie drehte sich um und lief noch einmal zu Hibiko, um sich von ihm zu verabschieden.
„Schön dich kennengelernt zu haben, Feuermädchen.“, sagte er grinsend zu ihr. Sein verschmitztes Lächeln erinnerte sie in diesen Moment an einen ihrer älteren Brüder und sie fiel ihm spontan um den Hals. Er schob sie lachend Richtung Fähre.
Wehmütig betrat Rhea das schwankende Deck und gesellte sich zu den Anderen ans Heck des Schiffes. Sie waren die einzigen Passagiere. Tuckernd liefen die Turbinen des Schiffes an und unter ihnen schäumten die Wellen auf.
Langsam fuhr die Fähre aus den Hafen und Rhea winkte noch einmal den Vier, die am Ufer zurückblieben. Karu hielt Hannah, die aussah als würde sie gleich ins Wasser springen, um ihnen hinterher zu schwimmen, an der Schulter fest, und Hjördis und Hibiko standen etwas abseits. Hibiko erwiderte das Winken.
Die Lichter von Fukuoka versanken im Nebel.
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World of Mystic
Science FictionDie Welt, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr. Europa wurde in Stücke gesprengt und Asien steht in Flammen. Nordamerika und Russland sind zu einem gigantischen Waldgebiet verschmolzen. Mittendrin einige Jugendliche, die dem Chaos auf den Grund...