Straße der Knochen

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Der Blick erinnerte Hannah unangenehm an ihre Eltern, wenn sie wieder „Erwachsenengespräche“ geführt hatten. Das letzte Mal hatte sie ihn gesehen, als ihre Mutter ihr vorsichtig versucht hatte beizubringen, dass sie umziehen würden. Sie war damals alles andere als begeistert gewesen und hatte das auch gesagt. Ihre Mutter hatte ihrem Vater einen undeutbaren Blick zugeworfen und er hatte ihn erwidert. 
Diese stumme Konversation jetzt bei Karu und Hjördis zu sehen, machte Hannah wahnsinnig. Seit gestern Nacht hatte sich etwas verändert. Sie wusste nicht was, aber sie fühlte sich noch ausgegrenzter als vorher. Sie war immer nur die Kleine, die Jüngste. Die, der man nichts anvertrauen konnte, weil sie nicht damit fertig werden würde. Dabei hatte sie genauso viel erlebt wie die anderen, wenn nicht noch mehr. 
Seufzend verstaute sie ihren Rucksack auf der hintersten Bank des klapprigen Vans. Immerhin durfte sie mit. Hannah hätte Karu und Hjördis zugetraut, dass sie sie einfach bei Andrej und seiner Familie zurückließen, damit sie bis in alle Ewigkeit mit Petja Dame spielte. Sie mochte den Jungen zwar, aber sie hatte eine Mission. Und die würde sie erfüllen, selbst wenn sie sich dafür in einen stinkenden Kofferraum verstecken müsste. 
„Seid ihr euch wirklich sicher?“, riss sie Andrejs Stimme aus den Gedanken, „Ihr könnt gerne noch ein paar Tage bleiben, bis es wärmer wird.“ 
Woher dieser Sinneswandel?, dachte Hannah, Gestern hieß es noch, dass sie nicht genügend Vorräte für drei weitere Personen hätten. Aber da war noch etwas in Andrejs Stimme, dass ihr keine Ruhe ließ. Sie konnte es nicht genau benennen. Zweifel? Sorge? Nein, das passte alles nicht richtig. 
„Es wird nicht wärmer werden“, hörte sie Hjördis murmeln. Die Kälte fiel ihr wieder ein. Für einen kurzen Moment hatte Hannah sie aus ihren Gedanken verbannt, doch nun überkam sie sie wieder wie eine eisige Dusche. Schon jetzt waren es -7ºC, was selbst für Magadan im Mai unter dem Durchschnitt lag. Der Schnee hatte inzwischen alles mit einer dünnen Schicht grauer Zuckerwatte bedeckt. 
Hannah kletterte aus dem Wagen. Andrej sah aus als wolle er etwas erwidern, schloss dann aber den Mund und schüttelte leicht den Kopf. Er grummelte etwas auf Russisch und schob seine Brille gerade. Sie folgte seinem Blick zu Karu, der gegen die Beifahrertür lehnte. 
„Mach mir keinen Kratzer rein, junger Mann!“, wies der Lehrer in Andrej Karu streng zurecht. Hannah schmunzelte. Der Wagen war gefühlte dreißig Jahre alt, der vormals weiße Lack war von rotbraunem Rost zerfressen und er hatte mehr Beulen als ihre Cousine Juli, wenn sie sich mal wieder mit den Nachbarsjungen angelegte. Das Schmunzeln verschwand aus ihrem Gesicht und sie sah traurig auf ihre Füße. 
Eine Hand legte sich auf Hannahs Schulter. Sie wusste ohne aufzuschauen, wer es war. Tatjanas Lächeln war warm und zuversichtlich. Es erinnerte sie an all die guten Dinge, die sie vor der Katastrophe gehabt hatte. Die staubigen Räume der Musikschule und der Gesangsunterricht, heißer Kakao, ihre Freunde. Wegen Tatjana wäre sie vielleicht hier geblieben und wegen Malina und Petja auch. Die drei gaben ihr das Gefühl, wieder ein Zuhause zu haben. Selbst mit Andrej konnte sie sich abfinden. Nur dieser Kolja war ihr suspekt. Er roch nach Alkohol und ab und zu spürte sie seine Augen unangenehm auf ihrem Rücken. 
Ein lautes Hupen schreckte sie auf. Tatjana grinste und Hannah blickte in Petjas feixendes Gesicht hinter der Windschutzscheibe. Der Junge sprang aus dem Wagen und verschwand lachend hinter einer Hausecke, während Andrej laut schimpfte. 
„Wir sollten jetzt los.“, schloss er seine Verwünschungen und stapfte durch den Schnee zu Hannah und Tatjana. Seine Brille saß schon wieder schief. Tatjana gab Andrej eine innigen Abschiedskuss und Hannah dreht sich beschämt weg. Zum Glück war ihr Gesicht durch die Kälte bereits gerötet. Einen Augenblick später wurde sie von Tatjanas Umarmung beinahe erstickt. 
„Ist ja gut, ich werde euch auch vermissen", keuchte Hannah und machte sich los. Ich will hier nicht weg, bitte, flehte sie innerlich und war von sich selbst enttäuscht. Eben hatte sie sich noch geschworen, auf jeden Fall mitzukommen. Aber bevor sie es sich anders überlegen konnte, rief Karu: „Hannah, kommst du?“ und verschwand im Van. Seufzend trottete sie zum Wagen und quetschte sich neben Hjördis auf die mittlere Bank. 
Stotternd sprang der Motor an als Andrej den Schlüssel drehte. Sie rollten die Einfahrt hinab. Vor der Haustür standen Tatjana und Malina und sahen ihnen nach. Eine Bewegung zwischen den Bäumen am Gartenzaun erregte Hannahs Aufmerksamkeit. Der Schneeball traf das Fenster neben ihr mit einem dumpfen „Pflupp“. Petja stand hinter einigen Sträuchern und winkte ihr zu. Zaghaft hab sie die Hand erwiderte die Geste. 
Sie waren gerade auf die Straße abgebogen als die Beifahrertür aufgerissen wurde und Kolja in den Wagen sprang. Die Bremsen quietschten und Hannah gegen in ihrem Gurt gepresst. Neben ihr schnappte Hjördis nach Luft. Was folgte, war eine hitzige Diskussion von der Hannah kein Wort verstand. Fragend sah sie Karu an, der nur mit den Schultern zuckte. 
„Das ist viel zu schnell. Er will anscheinend mitkommen“, erklärte er und lockerte seinen Gurt, der sich festgezogen hatte. Danke, da wäre ich jetzt nicht selbst drauf gekommen
Vier Minuten später gab Andrej sich mürrisch geschlagen und ließ den Motor wieder an. Hjördis hatte inzwischen die Kapuze ihres Hardrockcafe-Hoodies aufgezogen und sich die Hände auf die Ohren gelegt. 
Auf ihren Weg aus Magadan heraus sah Hannah schwerbewaffnete Soldaten, die mit grimmiger Miene vor Geschäften Wache standen. Lange Schlangen hatten sich vor einigen Läden gebildet, obwohl eisiger Wind wehte. Mit hängenden Schultern und mit gesenkten Blicken standen sie da. Sie hoben nur die Köpfe, wenn jemand mit einer Tüte Lebensmitteln aus dem Gebäude trat. 
„Vor drei Wochen haben sie angefangen die Nahrung zu rationieren. Jetzt muss man alle drei Tage nachweisen wie groß seine Familie ist und kriegt dann eine genau abgemessenen Menge Essen“, erklärte Andrej resigniert und beschleunigte, „In den Orten weiter draußen ist die Infrastruktur inzwischen komplett zusammengebrochen.“ 
Ein Schrei ließ Hannah herumfahren. Durch die Heckscheibe sah sie wie zwei Soldaten einen Mann zurück in die Schlange stießen. Er stolperte nach vorne und rutschte auf den glatten Steinen aus. Anstatt ihm zu helfen, duckten sich die anderen Menschen nur noch mehr zusammen und sahen nicht auf. 
„Sollten wir ihm nicht helfen?“, fragte sie. Ihre Augen klebten an der Szene. 
„Das können wir nicht. Entweder du spurst oder du und deine Familie werden von der Rationierungsliste gestrichen.“, antwortete Andrej erschöpft. Seine Finger krallten sich um das Lenkrad. 
„Aber...“, setzte sie an. 
„Lass gut sein, Hannah“, murmelte Karu. Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust.
„Warum? Es ist doch unsere Aufgabe zu helfen“, erwiderte sie trotzig. 
„Wir können nicht allen helfen. Willst du, dass Andrej und seine Familie wegen uns Probleme kriegt?“, mischte sich Hjördis ruhig ein. 
„Nein, natürlich nicht“, knurrte Hannah und biss sich auf die Zunge. 

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