Dachkantendialoge

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Man sagt, wenn man stirbt, ziehe das ganze Leben an einem vorbei. Léandra fragte sich, ob sie am schönsten Moment einen Cut machen könne und dann für immer in ihm gefangen wäre, als sie einen Fuß auf die Dachkante setzte. Dann fragte sie sich, ob es den schönsten Moment überhaupt gab. Der zweite Fuß folgte. Jeder Moment war schöner als alle Momente nach Tag X. 
Léandra schloss die Augen. Ein Schritt trennte sie von ihrem ganzen Leben. Der Wind trieb ihr die Haare aus dem Gesicht. Sie spürte ihn nicht. Sowie sie kaum noch etwas spürte, seitdem die Welt buchstäblich um sie herum eingestürzt war. Jetzt wollte sie es den Gebäuden ihrer Heimatstadt gleichtun und auch stürzen. 
Doch kurz bevor Léandra ihrem Leben ein Ende setzen konnte, stutzte sie. Etwas fehlte und diesmal war es ausnahmsweise nicht das fehlende Stück in ihrer Brust. Dieses Loch würde sich sowieso bald schließen. 
Dann fiel es ihr siedend heiß ein. Der Paukenschlag war bereits vor mehr als einer Woche ertönt. Wahrhaft, dachte sie, das war ein Paukenschlag gewesen. Aber die Pauke war nichts ohne das letzte Wort, den ultimativen letzten Satz. Alle Verachtung und alle Trauer wollte sie darin zurücklassen, sodass sie befreit an einem unheilbaren Schädelbasisbruch sterben konnte. 
Léandra schlug die Augen wieder auf. Der letzte Satz, den diese Welt von ihr hören sollte. Sie überlegte. „Leck mich doch am Arsch!“, wäre zu banal, ebenso wie „Und Cut!“. „Wir sehen uns auf der anderen Seite“ ergab keinen Sinn. Alle die sie kannte, waren schon dort. Kurz war sie versucht mit dem Blade-Runner-Zitat abzuschließen, das ihr Vater so gemocht hatte, doch das gehörte in Gewitternächte und nicht an sonnenklare Frühlingstage. 
Auf der Suche nach ihren letzten Worten balancierte sie die Dachkante entlang. Der Stein bot ihr Halt und sie wünschte, sie könnte tanzen. So wie sie es einmal mit Alexandros getan hatte, als nach einer langen Trockenperiode die ersten Regentropfen seit Ewigkeiten den Staub aus den Straßen wuschen. Damals war alles so leicht gewesen. Doch ihre innere Musik hatte sie verlassen, wie alles andere auch. Familie, Freunde, Nachbarn, alle Leute, die sie je gekannt hatte, Alexandros. Noch vor wenigen Tagen hatte es geheißen, er und sie gegen den Rest der Welt. Nun war sie allein und die Welt drehte sich dennoch weiter. 
Heute Nacht hatte Léandra Hannah im Bett über sich leise weinen gehört. Nicht zum ersten mal fragte sie sich, wo denn ihre eigenen Tränen waren. Sie hatte es ernsthaft versucht, nur war da nichts. Als hätte sie das Weinen in den Ruinen verlernt. 
Ihr fielen die alles entscheidenden Worte ein. Ein Blick hinunter zeigte ihr erneut, dass sie den Sprung nicht überleben konnte. Gut so. Sie öffnete den Mund, um sich dem Universum entgegenzuschleudern. 
„Also ich würde ja Pillen nehmen.“, verkündete eine Stimme hinter Léandra. Sie fuhr erschrocken zusammen und taumelte. Im letzten Moment fing sie sich und sprang aufs Dach zurück. 
„Spinnst du? Du hättest mich umbringen können!“, blaffte sie Tulio an, der auf einem Liegestuhl in der Nähe der Tür lag. Der Junge grinste sie breit an. 
„War das nicht eh Plan?“ 
„Ach, verpiss dich doch! Was verstehst du denn schon davon?“, fauchte sie und fragte sich insgeheim, wie lange er sie schon bei ihrem Selbstmordversuch beobachtete. Sie hatte ihn nicht kommen hören und auf dem Dach war keiner gewesen, als sie hier heraufgeklettert war. 
„Ich bin verdammt gut darin zu sterben. Deshalb sage ich dir: Nimm Tabletten. Es fühlt sich echt nicht gut an, wenn sich die Rippen in deine Lunge bohren und deine Organe zermatscht werden.“, sagte er und kramte in seiner Hosentasche. 
„Oh danke für diese Erleuchtung, Großmeister. Kannst du jetzt gehen?“, fragte sie verärgert. Zwar hatte sie die Liege beim Betreten des Daches bemerkt, aber nicht damit gerechnet, jemanden zu begegnen. 
„Damit ich später erklären muss, warum sich ein Teammitglied während meiner Anwesenheit vom Dach gestürzt hat? Nein danke. Außerdem will ich das Schätzchen hier...“, er kramte weiter in seiner Hosentasche und hielt schließlich triumphierend ein Plastiktütchen in die Luft, „...noch loswerden, bevor Kallik und Lapis wieder meine Sachen durchwühlen.“ 
Léandra betrachtete das Tütchen genauer und verdrehte die Augen. 
„Rauch das Zeug woanders und tu so, als hättest du mich nie gesehen.“, forderte sie Tulio genervt auf. Dieser verteilte das Gras sorgfältig auf einem Papierchen. 
„Nope, keine Chance. Ist mit meinem Gewissen nicht vereinbar“, sagte er und fügte einen selbstgebastelten Filter hinzu. Léandra gab ihre Pläne vorerst auf und setze sich hin. Ich warte ab, bis er im Nirwana verschwindet und springe dann, dachte sie und lehnte sich zurück. 
„Eins versteh ich nicht“, nuschelte Tulio als er die Klebefläche des Papiers ableckte, „Warum bist du hier geblieben, wenn du sowieso vorhast dich bei der nächstbesten Gelegenheit umzubringen? Du hättest einfach mit den Anderen gehen können.“ 
Léandra schwieg. Ja, warum war sie hier geblieben? Sie hatte ernsthaft geglaubt, dass sie das schaffen könnte. Durchhalten. Doch dieser Ort stellte alles nur noch mehr auf den Kopf. Andere Leute wie sie, Training, sich darauf vorbereiten die Welt zu retten. Viele der Anderen hatten Ähnliches erlebt wie sie und ihre Trauer erinnerte sie zu sehr an das, was sie selbst verloren hatte. 
Tulio biss ein Ende des Joint ab und beobachtete sie. Sein Blick war ihr unangenehm. Als würde er sie für schwach halten. Und er war ihr eindeutig zu mitleidig. 
Er denkt, ich gebe auf, stellte sie fest. Das hätte Alexandros aber nicht gewollt. Sie stellte sich vor, wie er hinter ihr stand und ihr ins Ohr flüsterte: „Du bist niemand, der schnell aufgibt. Das warst du noch nie. Als ich dir Inlinerfahren beigebracht habe, bist du ständig auf die Schnauze gefallen und ich habe dich jedes mal ausgelacht. Aber du bist jedes mal auch wieder aufgestanden und eines Tages hast du mich lachend überholt. Steh wieder auf und fahre so schnell, dass keiner dich mehr einholen kann.“ 
Fast konnte Léandra seinen Atem in ihrem Nacken spüren. 
„Hallo? Luft an Léandra, bist du noch da?“, sagte Tulio und schnipste vor ihrem Gesicht. Sie schrak zusammen und schüttelte die Vorstellung ab. 
„Was? Ja, ja.“, stammelte sie. Aufgeben war nun keine Option mehr für sie. 
„Also, warum bist du geblieben?“, fragte er erneut und ließ sie nichts aus den Augen, während er den Joint anzündete. 
„Ach, lass mich in Ruhe!“, fauchte sie und ging zur Tür. 
„Heißt das, du willst dich nicht mehr umbringen?“, rief Tulio ihr hinterher. Kommentarlos zeigte sie ihm den Mittelfinger. 
„Dann ist ja gut.“, verkündete er und nahm einen tiefen Zug von seinem Joint und lehnte sich zurück. Sie schnaubte verächtlich und warf die Tür hinter sich ins Schloss. 

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