War es Stalking, genau zu wissen, wo sich jemand aufhielt oder was er tat, wenn man nichts dafür konnte? Diese Frage hatte sich Newt nie gestellt. Und er stellte sie sich erst recht nicht, als er Sol und Hjördis im Kopf auf die Straße folgte.
Im Gemenge verlor er Sol beinahe aus den Augen, so wie Hjördis sie einige Meter zuvor verloren hatte. Sie stand jetzt an eine Hauswand gelehnt und versuchte wohl, vor all dem Krach, der bei der Parade herrschen musste, nicht die Nerven zu verlieren.
So war Newt auch der Erste, der Sol's Verschwinden registrierte.
„Äh Leute... wir haben ein Problem!“, unterbrach er die aufgeheizte Stimmung im Raum. Hope und Django stritten sich mal wieder über irgendeine Belanglosigkeit und die Anderen hatten längst aufgeben, sie zu beruhigen. Die beiden fanden immer einen Grund, sich in die Haare zu kriegen, weshalb Newt schon nach wenigen Sekunden abgeschaltet hatte.
„Was?“, fauchte Hope ihn aufgebracht an. Newt schluckte.
„Sol wurde gerade von zwei Männern betäubt und in den Kofferraum eines Toyotas gesteckt?“, sagte er zaghaft. Sofort brach wildes Stimmengewirr aus. Newt verstand kein Wort, bis Josiah laut rief: „Ruhe! Newt, ich hoffe, du verarschst uns nicht.“
In der anschließenden Stille spürte Newt alle Blicke auf sich gerichtet. „Nein, im Ernst. Ein Kleintransporter von Toyota mit verbeulter Tür und Sol im Laderaum biegt gerade auf die Stadtautobahn Richtung Süden ab.“
Ein Luftzug wirbelt Blätter auf, als Django aus der Wohnung rannte. Newt spürte, wie der andere Junge die Aufzüge ignorierte und die Treppe hinabraste.
„Was ist denn hier los?“, fragte Aaron, der in diesem Moment von Hibiko gefolgt aus dem Nebenzimmer kam.
„Sol wurde gekidnappt und Django rennt dem Auto hinterher.“, fasste Chloé zusammen, während Newt nur mit halben Ohr zuhörte. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, den Wagen und Django nicht zu verlieren. Obwohl sich Django erübrigte. Der machte gerade auf dem Absatz kehrt und Newt zählte bereits einen stillen Countdown ab.
Drei...zwei...eins...
Die Tür wurde aufgerissen.
„Wo ist Süden und wo ist die Autobahn!“
Newt deutete grinsend nach Süden und Hibiko suchte völlig perplex in einer Schublade nach einer Karte.
„Danke.“, rief Django und rannte mit der Karte in der Hand wieder los.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Rhea in der darauffolgenden Stille.
„Ich hab einen Wagen...“, verkündete Hibiko und kramte in seiner Hosentasche.
„Wie wäre es mit der Polizei?“, fragte Hannah.
„Damit wir direkt Stress mit der Einwanderungsbehörde kriegen? Nein danke.“, fuhr Aaron dazwischen, „Wir nehmen Hibiko's Auto und regeln das auf eigene Faust.“
„Aber...“, widersprach Hannah.
„Er hat Recht, Hannah.“, schaltete Newt sich dazwischen. Er war dieses ewige Diskutieren leid. „Sol braucht jetzt sofort Hilfe und wenn wir nicht schnell genug sind, kann ich sie nicht mehr orten. Wir rufen später die Polizei, wenn wir Näheres wissen.“
Hannah schwieg, doch er sah den Trotz deutlich in ihr Gesicht geschrieben.
„Wer kommt alles mit? Es passen nur vier weitere Personen in den Wagen.“, warf Hibiko ein.
„Newt natürlich.“, sagte Karu, „Ansonsten wollen wir nicht viel Aufmerksamkeit erregen. Rhea vielleicht als Ablenkungsmanöver.“
Newt sah zu Rhea. Er war sich nicht sicher, ob sie für so etwas geeignet war. Ihre Fähigkeit war sicher nützlich, doch wenn es hart auf hart käme, wäre sie vielleicht keine große Hilfe. Doch die anderen nickten zustimmend und so fügte er sich ihrem Urteil, ohne ein Wort über seine Zweifel zu verlieren.
„Ich komme auch mit.“, meinte Aaron schulterzuckend. Newt atmete innerlich auf. Im Kampf kompensierte Aaron alles, was es an Rhea mangelte.
„Wir sollten noch Hjördis mitnehmen. Sie war als letztes bei Sol und hat auch gerade den Lappen gefunden, mit dem sie betäubt wurde.“, schloss Newt und schulterte seinen Rucksack.
„Ihr habt sechs Stunden bis die Fähre ablegt. Sollen wir auf euch warten, wenn ihr zu spät kommt?“, fragte Karu abschätzig.
„Nein, wir nehmen die nächste.“, antwortete Aaron.
Falls es eine nächste geben wird, dachte Newt.Der Wagen hielt mit quietschenden Reifen vor dem Eingang der Seitenstraße. Verdreckte Papierfetzen und Glasscherben waren alles, was von der lebhaften Parade kurz zuvor zeugte. Newt bemerkte Hjördis, die an eine Wand gelehnt, mit den Händen auf den Knien, nach Atem rang.
„S-sie haben Sol.“, stotterte sie und Newt, inzwischen ausgestiegen, hatte Mühe sie zu verstehen.
„Django sucht sie schon und noch ist das Auto noch nicht aus meinem Radius raus. Auf der Autobahn staut es sich ein wenig.“
„Der Wagen ist grün und einer der Männer hat Herzprobleme.“, murmelte sie verwirrt. Rhea trat hinzu und reichte ihr eine Flasche Wasser, die das Mädchen durstig hinunterstürzte.
„Willst du mich verarschen oder seit wann haben Farben einen Geruch?“, murmelte Aaron, doch Newt folgte Hjördis ausgestrecktem Finger und sah die Lacksplitter an der gegenüberliegenden Hauswand.
„Sie haben Chloroform verwendet. Die halbe Gasse stinkt nach dem Zeug.“
„Ich rieche nix.“, meinte Hibiko und erntete dafür einen giftigen Blick von Hjördis.
„Wir müssen weiter. Das Auto ist bald weg und Django sucht einen Weg, um ihm auch ohne Autobahn zu folgen.“
Sie setzten sich wieder in Hibikos klapprige Schrottkiste und fuhren los. Der Wagen war grau und hatte bestimmt schon 300.000km auf den Buckel. Die Beifahrertür ließ sich nur noch durchs Runterkurbeln des Fensters öffnen und die Haltegriffe auf dem Rücksitz waren abgebrochen. Newt fragte sich, wie alt der Wagen war und ob schon mal ein Vogel unter der Motorhaube verwest war. Zumindest roch es so.
„Wisst ihr, dass ihr vergessen habt, dass wir Sol noch hier reinkriegen müssen?“, durchbrach Hjördis nach einer halben Stunde die Stille. Newt hat sich ohrfeigen können. Zwei Leute vorn, drei Leute auf der Rückbank. Er hätte ahnen müssen, dass sie irgendwo einen Denkfehler gemacht hatten.
„Darum kümmern wir uns, wenn wir Sol zurück haben.“, meinte Aaron und drehte sich nach hinten, „Wie weit noch?“
„Sie sind noch auf der Autobahn, Django läuft parallel zu ihnen in den Wäldern. Nachher kommt eine Abfahrt, die sie vielleicht nehmen.“
Sie schwiegen eine weitere halbe Stunde. Der Himmel war noch immer strahlend blau. Inzwischen hatten sie die Autobahn verlassen und fuhren auf einer leeren Landstraße. Newt spürte keine weiteren Autos oder Gebäude in der Nähe. Keine Schilder standen am Straßenrand.
„Können wir nicht schneller fahren?“, fragte Rhea zaghaft nach vorn.
„Keine Chance, schneller als 90km/h schafft sie Karre nicht. Aber hier kommt nichts mehr, außer dem Betriebsgelände von Satori Industries. Sie entwickeln Raketenteile für die Raumfahrt. Dichtungen oder so was.“, sagte Hibiko und blickte konzentriert auf die schnurgerade Straße.
Newt war unruhig. Bei näherer Betrachtung war das hier kein guter Plan. Sie folgten einen Wagen mit zwei ominösen Männern und einer entführten Freundin ins japanische Hinterland und wussten nicht genau, was sie erwartete. Es mangelte ihnen an Plan B und Informationen. Seiner Ansicht nach konnte es nur schiefgehen.
Er spürte wie sie sich einem Gebäudekomplex näherten und der Wagen einige Kilometer vor ihnen langsamer wurde. Er runzelte die Stirn. Wenn Hibiko sich nicht irrte, war das diese Raketenfirma. Aber was wollten Sols Entführer auf diesem Gelände?
„Sie sind zu Satori Industries abgebogen.“
Newt wurde gegen seinen Gurt geschleudert als Hibiko scharf bremste.
„Was!“
„Sie sind abgebogen.“, erklärte Newt erneut und rieb sich die schmerzende Brust. Hibiko fuhr langsam wieder an.
„Jetzt haben wir ein Problem. Der Laden wird bewacht wie ein Hochsicherheitstrakt, wegen der Sachen, die sie für die Treibstoffentwicklung und -herstellung brauchen. Und sie haben ständig Angst vor Industriespionage.“
„Verdächtig, verdächtig.“, murmelte Hjördis neben Newt und starrte weiter aus dem Fenster. Unser Plan ist noch unausgereifter als befürchtet, dachte Newt und verfluchte sich mal wieder im Stillen.
Hibiko parkte den Wagen auf einem schmalen Forstweg und sie schlichen unter den Bäumen zum Zaun, der das ganze Gelände umgab. Es war dichter Maschendrahtzaun, gekrönt von einer doppelten Spirale Stacheldraht. Dahinter erhoben sich graue Betonklötze, nur die obersten Stockwerke besaßen Fenster.
Ein grüner Wagen hielt vorm Eingangstor und wurde vom Pförtner auf der anderen Seite durchgelassen. Newt sah, wie er direkt vor einem der Gebäude hielt und zwei Männer ausstiegen. Sie öffneten die Tür zum Laderaum und kletterten hinein.
„Hier seid ihr.“, rief jemand hinter ihnen und Newt wirbelte herum. Django stand grinsend und schwitzend vor ihm. Er hatte beim Beobachten des Wagens ganz vergessen, dass Django auch noch da war.
„Psst!“, zischte Hjördis und legte den Zeigefinger auf die Lippen.
„Sie sind weg.“, flüsterte Rhea und deute auf den Platz. Aaron fluchte. Der Wagen, die Männer und mit ihnen auch Sol waren verschwunden.
„Worauf warten wir noch?“, wisperte Django und trat näher an den Zaun, doch Newt riss ihn zurück.
„Bist du wahnsinnig oder taub! Da ist Strom drauf!“, fuhr er ihn an, „Wir brauchen einen anderen Plan.“Wenige Minuten später brach Chaos auf dem Gelände von Satori Industries aus.
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World of Mystic
Science FictionDie Welt, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr. Europa wurde in Stücke gesprengt und Asien steht in Flammen. Nordamerika und Russland sind zu einem gigantischen Waldgebiet verschmolzen. Mittendrin einige Jugendliche, die dem Chaos auf den Grund...