Manchmal stellte sie sich vor, wie sich hinter ihrer Netzhaut kleine Kolben in Bewegung setzten, um noch kleinere Zahnräder klickend anzutreiben, die dann ihr Sichtfeld umstellten. Léandra rieb sich über die Augen und sah dabei gleichzeitig durch ihre Finger hindurch. Vor ihr lief Marina, den Kopf gesenkt und mit den Nerven am Ende.
Sie meinte, Kallik sei tot, dachte Léandra. Aber das ist unmöglich. Er kann nicht durch Feuer sterben. Er ist Feuer.
Sie erinnerte sich an seine letzten Worte: „Er ist definitiv neu!“ Als sie damals auf dem Dach gestanden hatte mit Blick zum Himmel, bereit über die Kante zu treten, hätte sie nicht gedacht, dass das die letzten Worte von jemanden sein könnten. Zumindest befand es sich nicht auf ihrer Liste der hundert besten Todeszitate.
Hier ist ein neuer Stoff beteiligt, den ich nicht kenne. Er ist definitiv neu. Was soll das bedeuten?
Er hat das Feuer analysiert und dabei etwas gefunden, dass nicht hineingehört, meldete sich eine Stimme in ihrem Kopf.
Da wäre ich nie drauf gekommen, erwiderte Léandra kühl. Und jetzt: RAUS AUS MEINEM KOPF, CAROL!
Ist ja gut, murrte Carol und Léandra sah sie ein Stück weiter vorn herumdrucksen. War echt schwer, das ganze übersetzen, aber ich bin schon weg.
Stille kehrte in Leándras Kopf ein. Sie war wieder allein mit ihren eigenen Gedanken. Erleichtert ließ sie sich ans Ende des Gruppe zurückfallen. In ihrer Nähe lief Rhea, aber von ihr musste sie nicht befürchten, dass sie ein Gespräch anfangen würde.
Die Stadt ruhte gespenstisch ruhig. Kaum ein Mensch war auf den Straßen unterwegs und wenn sie jemanden trafen, war sein Kopf gesenkt und er hastete an ihnen vorbei. Die Fenster der Läden und Häuser waren vernagelt; schmale Streifen Licht quollen zwischen den Brettern hindurch und zeichneten Muster auf den Schnee. An einigen Ecken standen Soldaten. Sie machten keine Anstalten sie aufzuhalten.
Sie haben wohl noch nicht mitbekommen, was am Fluss geschehen ist. Sonst würden sie uns aufhalten, dachte Léandra und ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Die Soldaten am Fluss hatten auf sie gezielt und waren ihnen in den Weg getreten, doch ihre Hände zitterten. Mit einem gezielten Röntgenblick hatte Léandra bemerkt, dass einige vor Panik vergessen hatten, ihre Waffen zu laden. Schließlich hatte ein Offizier – der Leutnant von der Brücke – einen Befehl gegeben. Die Waffen wurden gesenkt und sie durften unbehelligt passieren. Kluger Mann. Marina ist am Ende. Wer weiß, was sie sonst getan hätte, um Django und Chloé zu folgen.
„Ich hab sie!“, rief Newt und klatschte triumphierend in die Hände. „Sie sind in einem Krankenhaus.“ Er legte zögernd den Kopf schief, als würde er auf eine ferne Stimme lauschen. „Beißer ist auch dort, er sitzt neben Django und ist gefesselt.“
Léandras Züge entgleisten. „Und das ist auch ganz sicher keine Falle?“, rief sie nach vorn. Wie solle Django das hinbekommen haben? Er war viel zu inkompetent dafür.
„Keine Falle,“ Newt schüttelte den Kopf. „Beißers Bein ist gebrochen und jetzt sitzen sie einfach im obersten Sto...“
„Wo ist Chloé?“, unterbrach ihn Marina unwirsch.
„Liegt im OP,“ murmelte Newt und wisch Marinas Blick aus. Er tat Léandra leid. Er konnte schließlich auch nichts dafür.
Die Gruppe folgte Newt durch die Straßen mit Léandra als Schlusslicht. Kurz bevor sie das Krankenhaus erreichten, wurde Marina schneller. Der Eingang kam nicht Sichtweite und das Mädchen rannte los. Josiah stieß einen Fluch aus und sprintete hinter ihr ihr und eh sie sich versah, lief Léandra eiligst hinter den anderen her.
In ihrem Rucksack klirrte es und sie kam schlitternd zum Stehen. Mist! Das verdammte Ding habe ich ja ganz vergessen!, schoss es ihr durch den Kopf. Sie wurde langsamer und setzte jeden Schritt mit Bedacht. Sollte das Glas kaputt gehen, würde es zu einer Katastrophe kommen. Zumindest würde sie Tulio zutrauen, Menschenleben durch eine so unsinnige Sache zu gefährden. Bitte geh nicht auf oder hab einen Sprung. Bitte geh nicht auf. Warum habe ich das Ding nicht einfach im Fort gelassen?
Léandra war bereits kurz vor der Menschenmenge vor dem Eingang des Krankenhauses, als es wieder klirrte. Okay, jetzt reicht‘s! Behutsam setzte sie den Rucksack ab und schob einige Sachen beiseite. Sie nahm ein Kleiderbündel heraus. Vorsichtig, als würde sie mit einer Bombe hantieren, wickelte sie es auf. Unter einer Schicht Zeitung blitzte das Glas aus.
Der Tornado hatte am Morgen ihrer Abreise neben ihrem bereits gepackten Rucksack gestanden. Dichte Wolken hatten sich am Verschluss des Einmachglases gesammelt und manchmal glaubte sie, dass es im Inneren blitzte. Der Tornado selbst war etwa so groß wie ihre Handspanne. Er drehte sich rasend schnell und wirbelte einige Staubteilchen auf, da Tulio wohl vergessen hatte, das Glas richtig auszuspülen. Ein paar Tropfen Kondenswasser rannen an den Seiten hinab und würden vom Rüssel des Tornados wieder angesaugt. Am Deckel haftete ein gelber Notizzettel: Mit freundlichen Grüßen. Er ist sehr pflegeleicht. Unten stand in klein ein weiterer Satz in derselben unleserlichen Handschrift: Nicht aufmachen!
Im trüben Licht des Vormittags wirkte es auf Léandra als habe der Mini-Sturm an Tempo verloren. „Du wirst doch nicht etwa krank?“, murmelte sie und kam sich augenblicklich albern vor. So weit ist es mit dir schon gekommen: Du redest mit einem Tornado.
Natürlich gab der Tornado keine Antwort.
„Léandra, kommst du?“, rief Sol ihr vom Rand der Menge aus zu. Hastig rollte sie das Glas in ihre Klamotten ein und verstaute das Bündel in ihrem Rucksack. Die anderen sollten nicht erfahren, dass sie einen Tornado durch die halbe Apokalypse trug. Die Fragen wollte sie sich ersparen.
Die anderen rätselten darüber, wie sie an der Polizei vorbei ins Krankenhaus kämen, als Léandra dazustieß. Desinteressiert hörte sie zu. Ihr Blick glitt über die Menge. Überall Verletzte oder besorgte Angehörige. Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle. Genauso hatten die Menschen zuhause auch ausgesehen. Traurig rieb Léandra über ihr Lederarmband.
Das Armband, ihre Jeansjacke, ihre Schuhe und der Tornado. Die einzigen Sachen, die ihr gehörten. Ihre Schultasche hatte sie am Tag X irgendwo in den Ruinen verloren und ihre Klamotten waren so verdreckt, eingerissen und voller Blut, dass Léandra sie hatte wegschmeißen müssen. Ihre Ausrüstung und ihre jetzigen Kleider stammten von ATLAS. Im Fort war ihr zwar gesagt worden, dass sie sie behalten konnte, aber es fühlte sich nicht richtig an. Diese vier Sachen waren ihre einzigen Besitztümer, auch wenn sie eins davon Tulio bei der nächstbesten Gelegenheit an den Kopf knallen würde.
Ein Schrei ertönte und ein dutzend Köpfe drehte sich in ihre Richtung. Ein Junge, kaum älter als Nicolas, deutete wild in ihre Richtung. Léandra verstand zwar kein Wort, von dem was er schrie, aber sie konnte es sich denken. Das sind sie. Das sind die vom Fluss.
„Newt, such den nächsten Notausgang. Carol, funke Django an und sag ihm, er soll ihn von Innen öffnen,“ wies Léandra sie an. Dieses Geplänkel ging ihr auf den Keks und sie sollten sich schleunigst aus dem Staub machen, wenn sie nicht doch noch verhaftete werden wollten.
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World of Mystic
خيال علميDie Welt, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr. Europa wurde in Stücke gesprengt und Asien steht in Flammen. Nordamerika und Russland sind zu einem gigantischen Waldgebiet verschmolzen. Mittendrin einige Jugendliche, die dem Chaos auf den Grund...