Die Neuen

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Der Saal war voller unruhiger Menschen. Es waren nicht viele und der Saal war groß, und doch kam es einem vor, als würde er aus allen Nähten platzen. Einige standen in Gruppen beisammen, andere saßen. Sie flüsterten, obwohl nichts dagegen sprach laut zu sein. Niemand lachte. Hjördis glaubte sich in einer Kirche, so gedämpft klang jedes Geräusch. Der Krach von hunderttausend Presslufthämmern wäre ihr lieber gewesen. 
Sie rollte in den Raum und blieb mit dem Rad ihres Rollstuhls am Türrahmen hängen. Sie fluchte. Zwar konnte sie dank Dr. Rothschild heilenden Händen wieder kurze Strecken laufen, doch Treppen und längere Wege bereiteten ihr noch immer Schwierigkeiten. Aber nur noch zwei Sitzungen und sie konnte trainieren wie alle anderen auch. 
Mit einem kräftigen Ruck löste Hjördis das Rad und rollte in eine Ecke. Die anderen Jugendlichen sahen kurz auf und steckten dann die Köpfe wieder zusammen. Wie sie trugen einige Verbände und Wunden. Die meisten von ihnen waren nach ihr eingetroffen, die letzten erst vor wenigen Stunden. Von nun an würden keine neuen mehr hinzukommen. 
Mr Cummingfield trat nach vorn an das Rednerpult. Er strich sich fahrig durchs dünner werdende Haar und räusperte sich. Einige sahen kurz auf, wandten sich aber sofort wieder ab. Er räusperte sich erneut, diesmal lauter. Nun herrschte Schweigen und alle sahen in erwartungsvoll an. Seine Stimme zitterte, als er zum Sprechen ansetzte. Fürs Schlachtfeld geboren, aber dies ist keine Schlacht mit Schwertern, dachte Hjördis. 
„Willkommen an jene, die erst heute zu uns gestoßen sind. Einige von euch wissen bereits, warum sie hier sind und andere ahnen es vielleicht.“ Mr Cummingfield stockte kurz. „Die Welt, wie wir sie kannten existiert nicht mehr. Vor sieben Tagen erschütterte eine gewaltige Explosion Europa. Wie es dazu kommen konnte, wissen wir nicht. Kurz darauf brach ein Feuer in Asien aus. Es verschlingt alles und jeden und lässt sich selbst vom Regen und Flüssen nicht abhalten. Es bahnt sich seinen Weg und wir wissen nicht, wie man es aufhalten könnte.“ Er fummelte am Rednerpult. Eine Weltkarte wurde von einem an der Decke angebrachten Beamer an die Wand hinter ihm gestrahlt. Sie war normal, nur ihre verschiedenen Färbungen zeigten, dass etwas mit der Welt nicht stimmte. Europa war zu großen Teilen dunkelblau eingefärbt und die Küstenlinien hatten sich verschoben. In Asien breitete sich ein oranger Fleck immer weiter aus. Und Nordamerika und Russland waren durchweg grün. 
„Wie ihr alle wissen solltet, begann vor 20 Jahren die rasante Ausbreitung der Wälder. Keiner weiß, warum die Bäume nun schneller wachsen, als zu vor. Über all diese Vorkommnisse können wir nicht mehr hinwegsehen.“ 
„Wer ist wir?“, rief ein dunkelhaariger Junge aus der zweiten Reihe. Mr Cummingfield sah ihn an, sichtlich bemüht Haltung zu bewahren. 
„Darauf wollte ich gerade hinaus.“, er schenkte dem Jungen einen durchdringenden Blick, „Wir, das ist ATLAS. Diese Gesellschaft existiert schon sehr lange. Wir stehen außerhalb der Regierungen und operieren meisten verdeckt. Unsere Aufgabe ist es, die Menschheit zu retten. Vor allen Gefahren von Außerhalb, aber auch vor sich selbst.“ Seine letzten Worte gingen im Gemurmel der Menge unter. Es dauerte eine Weile bis sich alle wieder beruhigt hatte. Mr Cummingfield räusperte sich erneut, Hjördis sah deutlich die Schweißperlen auf seiner Stirn. 
„Nun hat ATLAS beschlossen einzugreifen und dafür benötigen wir eure Hilfe. Wie jeder von euch weiß, gibt es Menschen mit speziellen Fähigkeiten.“ Erneutes, heftigeres Gemurmel, das nicht abbrach. Erst als eine Rückkopplung des Mikrophons Hjördis beinahe aus ihrem Rollstuhl warf, beruhigte sich die Menge. 
„Ja, Sie haben richtig gehört. Wir wissen von euren Fähigkeiten und können euch sagen, Sie sind nicht allein. Jeder hier in diesem Raum ist wie Sie. Und jeder hier von ihnen ist ausgewählt worden, um das Team Shadow zu bilden.“ Jetzt kommt es, dachte Hjördis. 
„Wenn Sie damit einverstanden sind, werden Sie Teil eines mobilen Aufklärungstrupps. Sie werden Informationen sammeln und mit uns Lösungen suchen. Sie werden mit den anderen Teammitgliedern trainieren und auf ihre Aufgabe vorbereitet werden. Aber ich möchte Ihnen die Wahrheit nicht verschweigen; Dieser Auftrag ist nicht ungefährlich und könnte sie das Leben kosten. Wenn sie nicht daran teilhaben wollen, bringen wir sie in die nächste Stadt und sie können ihr Leben weiterleben. Denken Sie darüber nach.“ 
Hjördis hörte ihn schlucken als er das Pult verließ. Sofort brach lautes Gerede aus. Die Leute hatten mehr Fragen als Antworten von dieser Rede erhalten. Weitere Sprecher traten vor und wiederholten Mr Cummingfield Vortrag auf Mandarin und Spanisch. Einige der Jugendlichen verließen den Saal, doch Hjördis blieb. Gut, sie hatte all dies schon vorher von den Trainern erfahren, doch es noch einmal offiziell zu hören, machte es realer. 
Nur drei entschieden sich am Ende dagegen. Sie würden am Nachmittag nach Arrowhead gebracht werden, die Stadt, die nur wenige Meilen vom Fort entfernt lag. Hjördis selbst hatte sich bereits gestern dafür entschieden zu bleiben. Wohin sollte sie auch gehen. Ihr Zuhause war zerstört und sie wusste auch nicht wie sie dorthin zurückkehren sollte, ganz ohne Pass und Geld. Sie machte sich Sorgen um ihre Familie und ihre Freunde, doch hier konnte sie etwas gegen das Chaos da draußen unternehmen. 
Nachdem die letzten Fragen beantwortet und die ersten Entscheidungen getroffen waren, rollte Hjördis aus dem Raum. Sie war eine der Letzten, die sich in den Fluren des Haupthauses aufhielten. An der Treppe, die ins obere Stockwerk führte, klammerte sie sich ans Geländer. Mit vor Anstrengung zitternden Beinen hievte sie sich die Stufen hinauf. Schwer atmend kam sie am oberen Treppenabsatz an. Nun musste sie warten, bis jemand so freundlich wäre den Rollstuhl nach oben zu tragen. 
Langsam bereute Hjördis es, dass sie darauf bestanden hatte die Krankenstation im Erdgeschoss zu verlassen. Das Treppensteigen tat ihrem ohnehin schon lädierten Bein nicht gut. Doch auf Station fühlte sie sich wie ein kleines Kind, das ständig betüttelt wurde. Außerdem hätte sie dort die erste Nacht mit einer grimmig dreinblickenden Lapis verbringen müssen. 
Hjördis hörte Schritte und sah von der Galerie aus einen braunhaarigen Jungen die Treppe hinaufsteigen. 
„Warte!“, keuchte sie, „Der Rollstuhl.“ 
Der Junge sah sich verwirrt um, erblickte dann den Rollstuhl und trug ihn dann nach oben. Erleichtert sank sie auf den Sitz. 
„Danke.“, seufzte sie. 
„Kein Problem, ich dachte nur, du würdest dauerhaft in dem Ding sitzen.“, sagte er mit einem Akzent, der sie an Spanisch erinnerte. 
„Nein.“, winkte sie ab, „Das kommt nur von einem kleinen Zusammenstoß mit einem Tsunami.“ 
Er schwieg kurz. 
„Scheiße was da passiert ist, oder?“, durchbrach er dann die Stille. 
„Joa.“, erwiderte Hjördis. Dann schwiegen sie wieder. 
„Also bis irgendwann.“, sagte der Junge und drehte sich zum gehen. 
„Bis zum Abendessen.“, verabschiedete sie sich. Nachdem er um eine Ecke verschwunden war, rollte Hjördis zu ihrem Zimmer. Sie ahnte schon schlimmes als sie Schritte darin hörte. Sie riss die Tür auf und sah sich einem blonden Mädchen gegenüber, das gerade seine Sachen in den Schrank räumte. Die Fremde trug Kopfhörer und summte leise vor sich hin. Sie bemerkte Hjördis gar nicht. Erst als Hjördis sie vorsichtig mit dem Rollstuhl anstupste, sprang sie kreischend nach oben. 
„Oh Gott noch mal! Musst du mich so erschrecken?“, rief sie überrascht. Britin, dachte Hjördis. 
„Was tust du hier?“, fragte Hjördis. 
„Ich wusste nicht, dass ich schon eine Zimmerpartnerin habe.“, erwiderte die Britin, „Du hast überhaupt keine Sachen hier.“ 
Hjördis öffnete kommentarlos die andere Schranktür und deutete auf ihren ramponierten Rucksack. Er war verdreckt und roch nach Brackwasser. Wie all ihre Sachen. Zwar waren sie direkt nach ihrer Ankunft hier in die Waschmaschine gesteckt worden, doch der Geruch ging nur schwer wieder raus. 
„Das...“, sagte die Britin mit einem Blick auf die matschige Katastrophe,...ist traurig.“ Dann streckte sie Hjördis ihre Hand entgegen. „Ich bin Hope und du?“ 
„Hjördis“ Sie schüttelte die Hopes Hand. 
„Also erzähl mal Hjördis, was ist deine Fähigkeit? Ich hab Telekinese.“ Demonstrativ bewegte sich einer der Stühle vom Tisch fort. 
„Hypersensibilität.“ 
„Cool.“, sagte Hope und kletterte auf das obere Bett. Dort lag bereits ein großes, gelbes Kissen. Hjördis seufzte innerlich. Sie hatte nach oben gewollt und hatte in den vergangenen Nächten nur unten geschlafen, weil ihr Bein nicht mitspielte. 
„Stört es dich, wenn ich die Musik lauter mache?“, fragte ihre neue Mitbewohnerin. 
„Nein, überhaupt nicht.“, erwiderte Hjördis sarkastisch. Was Hope aber überhörte. 
„Dann ist ja gut.“, sagte diese und zog die Kopfhörer aus ihrem Handy. Sofort schallte laute Technobeats durch den Raum. Hjördis sank auf ihr Bett und presste sich mal wieder das Kissen auf die Ohren. Schließlich wankte sie zu ihrem Rucksack und suchte in einer Seitentasche nach ihren Tabletten. Als sie die Dose öffnete floss ihr eine zähe, weiße Pampe auf die Finger. Nicht mal die Pillen hatten den Tsunami überlebt. Sie seufzte erneut. Das konnte ja noch heiter werden. 

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