Satori Industries

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Es sah aus wie Feuer, es bewegte sich wie Feuer, es hörte sich sogar an wie Feuer. Es roch sogar halbwegs wie Feuer, nur fehlte der sanfte Geruch des Rauches. Nicht der, der in der Kehle kratzt und einen husten lässt, sondern der, der sich wie eine weiche Decke um die Lunge legt und einen einschlafen lässt. Doch wenn man diesen Geruch nicht kannte, war es schwierig, ihn zu kopieren. 
Aber das fiel ja eh niemanden außer ihr auf. Selbst wenn die Anderen darauf geachtet hätten, hätten sie es nicht bemerkt. Und die Mitarbeiter von Satori Industries waren viel zu sehr damit beschäftigt, dieses nicht vorhandene Feuer zu löschen. 
Hjördis warf einen letzten Blick zu Rhea und Hibiko, die hinter den Büschen hockten. Rhea's Augen waren geschlossen und das Mädchen hatte längst jeden Kontakt zur Außenwelt verloren. Zu sehr war sie damit beschäftigt, die Illusion der Flammen auf dem Parkplatz aufrecht zu erhalten. Hibiko kniete neben ihr und behielt die Gegend im Auge. 
„Er ist weg“, flüsterte Newt und deutete auf das Pförtnerhäuschen, dessen Tür nun weit offen stand. Leider auf der anderen Seite des schweren Tores. Auf dem Parkplatz trieben sich Menschen mit Feuerlöschern herum um die brennenden Autos zu löschen. Der Asphalt schmolz unter der imaginären Hitze und schwarze Rauchwolken stiegen in den dämmernden Himmel. 
„Gut gemacht, Rhea.“, murmelte sie und schlich sich leise ans Tor heran. Sie lauschte auf das Sirren des Stroms, doch hier blieb es aus. Tolle Sicherheitsmaßnahmen, dachte sie und grinste innerlich. Mit einem Handzeichen bedeutete sie den Anderen, ihr zu folgen. 
Das Metall unter Hjördis Fingern fühlte sich kalt und rau an. Sie setzte einen Fuß zwischen die Querstangen und hangelte sich nach oben. Kurz bevor sie oben angekommen war, begannen ihre Arme zu zittern. Ihre Hände waren schwitzig und fanden keinen richtigen Halt mehr. Sie verharrte auf der Stelle. 
„Was ist los?“, hörte sie Newt unter sich. 
Reiß dich zusammen. Es ist nur noch ein halber Meter. 
Hjördis zog sich nach oben und saß nun rittlings auf dem Tor. Von hier oben konnte sie das Feuer noch besser beobachten. Es fraß sich wie ein Tier durchs Metall und Gummi der Autos. Um eine Ecke bog ein roter Löschwagen der Betriebsfeuerwehr ohne Sirene. Wann würden die Leute merken, dass das Feuer nicht real war? 
Sie ließ sich vorsichtig nach unten gleiten und landete wie eine Katze auf beiden Füßen. Gleichgewichtssinn war schon was tolles. Sie sah sich um, niemand blickte in ihre Richtung. Sie drehte sich zu den Anderen. 
„Die Luft ist rein. Sie sind alle viel zu beschäftigt.“, sagte Hjördis und grinste als Newt die Räuberleiter von Aaron ablehnte. Der Junge stemmte sich die Streben hoch, aber auch er hatte kurz vorm Ziel Schwierigkeiten. Ihr stockte der Atem, als er zitternd innehielt. 
„Nur noch ein kleines Stück, Newt.“, rief sie zu ihm hinauf und hoffte inständig, dass er nicht fallen würde. Sie selbst war mal beim Umherstreunen in den Lavafeldern gestürzt und hatte sich den Fuß und einige Rippen angeknackst. Ihrer Mutter hatte sie erzählt, dass es ein Fahrradunfall gewesen war. Natürlich hatte sie ihr nicht geglaubt. Vermutlich lag es daran, dass das Fahrrad an diesem Tag im Schuppen gestanden hatte. 
Das hier waren aber drei und nicht zwei Meter und der Untergrund bestand aus Asphalt und nicht aus einer dicken Moosschicht. 
Erleichtert sah sie, wie Newt sich hochzog und oben nach Luft schnappte. Beim Abstieg half Hjördis ihm. 
Aaron und Django schafften das Tor ohne größere Probleme, was sie aber nur mit halben Auge mitbekam. Sie durchstöberte gerade das Pfortnerhäuschen nach einer Keycard oder einem Schlüssel. Stattdessen fand sie das Mittagessen des Pförtners, einige Zeitschriften für die ihr Bruder zwei Wochen Hausarrest bekommen hätte und Bürozeug. Sie ließ einige Kugelschreiber mitgehen. 
„Hier ist nichts.“, sagte sie schulterzuckend und trat aus dem kleinen Häuschen. 
„Dann müssen wir anders sehen, wie wir dort reinkommen. Newt, wo ist sie gerade?“, fragte Aaron und blickte zum Feuer. Die Feuerwehr hatte begonnen weißen Löschschaum auf die brennenden sprühen, doch Rhea dachte offensichtlich nicht daran, sie einfach so gewinnen zu lassen. 
„Unter dem Gebäude da gibt es noch einige Kelleretagen.“, Newt deutete auf das Gebäude in das die Männer Sol gebracht hatten, „Und...sie ist nicht die Einzige, die dort festgehalten wird.“ 
„Was!“, entfuhr es Hjördis. 
„Es gibt Räume, eher Zellen und in denen sind Menschen. Einige von ihnen liegen auf einer Art Krankenstation.“, sagte Newt und sie vernahm das leichte Zittern der Unsicherheit in seiner Stimme. 
„Los, kommt! Wir müssen uns beeilen.“, warf Django ein und rannte über den Parkplatz zum Eingang des Gebäudes. Hjördis hatte Mühe ihm mit den Augen zu folgen. Und zu Fuß erst recht, aber da war sie nicht die Einzige. Sie schlich sich mit den beiden Anderen von Deckung zu Deckung, von Baum zu Auto zu Baum. Gemeinsam erreichten sie den Eingang acht Minuten nach Django. 
Der grüne Wagen stand noch vor der verschlossenen Tür und der vertraute Geruch des Chloroform hing noch immer an ihm. Sie prüfte, ob sich eine der Wagentüren öffnen ließ, doch die Zentralverrieglung war wohl schon angesprungen. 
Hjördis bückte sich gerade, um einen Stein aufzuheben, da hörte sie, wie hinter ihr die Tür aufsprang. Aaron grinste breit und nahm die Hand von der Klinke. 
„Industriespionage?“, fragte er gestellt ungläubig und stieß die Tür zum Gebäude vollends auf. 
„Jemand wird sie wohl beim Hinausrennen offen gelassen haben.“, meinte Django und zuckte mit den Schultern. 
Hjördis wusste nicht so recht, was sie von der offenen Tür halten sollte. Das war zu einfach. Es war niemals so einfach. Newt musste ihr zögern bemerkt haben, denn er schloss kurz die Augen. 
„Der Gang ist frei, da ist niemand. Nur eine Kamera über der Tür.“, sagte er. Aaron hob jetzt den Stein, den sie selbst schon verwenden wollte auf und zog sich die Kapuze seines Shirts tiefer ins Gesicht und stürmte in den Gang. Ein Klirren folgte als die Linse der Kamera zersprang.
„Jetzt ist da keine Kamera mehr.“, lachte er und lief weiter. 
„Diese Sicherheitsvorkehrungen... so etwas würde mein Vater in seiner Firma nie zulassen.“, verkündete Django stolz und schritt hinter Aaron her. Idiot, dachte Hjördis und folgte Newt. 

Der Gang führte sie tiefer ins Herz des Gebäudekomplexes. Er war hell von Neonröhren beschienen und der Boden war aus blauem Linoleum. In unregelmäßigen Abständen zweigten Türen ins Nirgendwo vom Gang ab, doch Newt führte sie immer weiter gerade aus. Ab und zu demolierte Aaron noch eine Kamera. Keine Menschenseele kam ihnen entgegen. Alles war wie ausgestorben. 
Sie gelangten zu einem Fahrstuhl, der breit genug war, um ein Krankenhausbett zu beherbergen. Hjördis lief ein Schauer über den Rücken. Dieser Ort war so... steril. Tot. Alles hier roch gedämpft und das einzige Geräusch bestand aus dem Quietschen ihrer Schuhe auf dem Linoleum. 
Der Fahrstuhl war mit einem Keycard-Scan gesichert, doch neben an führte eine Treppe in die Tiefe. Sie folgte Newt hinab und wunderte sich über ihren eigenen nervösen Herzschlag. Sie hatte schon oft Verbotenes getan, hatte Sachen gestohlen, war von zuhause weggelaufen, war nächtelang in den Lavafeldern unterwegs gewesen. Doch das hier war anders. Größer. 
„Da kommt jemand!“, zischten sie und Newt beinahe gleichzeitig. Schritte näherten sich in der Ferne und sie stürmten so leise wie möglich die Treppe hinab. Unten erwartete sie ein weiterer Gang mit Neonröhren und Linoleum. Erschreckt sah Hjördis wie die Anzeige des Fahrstuhls in diesem Geschoss aufleuchtet und nach unten zählte. Noch ein Stockwerk und die Tür würde sich öffnen und sie standen mitten im Gang. 
Django stieß ein Tür auf und zog sie in einen Raum. Mit angehaltenem Atem lauschte sie auf das „Bing“ der Fahrstuhltür und die Schritte im Gang. Erleichtert atmete sie aus, als diese sich entfernten. 
„Leute, das solltet ihr euch ansehen.“, sagte plötzlich Aaron mit belegter Stimme in die angespannte Stille hinein. Hjördis drehte sich zu ihm um und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Aaron stand stocksteif vor einem riesigen Kühlschrank mit Glastür, ähnlich einem Kühlregal im Supermarkt. Dieser Kühlschrank war nicht der Einzige. Dutzende Reihen warfen ein kaltes, blaues Licht in den Raum. An jedem war ein Klemmbrett befestigt und in jedem befanden sich Körperteile. 

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