Busan

10 5 0
                                    

Der Hafen von Busan war voll und belebt. Menschen drängten sich an den Pieren. Ihre Regenschirme bildeten ein schwankendes, buntes Dach über der Menge. 
Hope war es zu voll. Sie drückte erneut auf Shuffle und sah sich um. Die Leute trugen Koffer und Rucksäcke. In ihrer Nähe schrie ein Kind. Es zerrte an der Hand seiner Mutter, die sich hektisch umblickte. Hinter ihr trottete ein Junge, vielleicht ein Jahr jünger als Hope, mit regennassen Haaren. Das war nur eine Familie in ihrem Blickfeld. Um sie herum quetschten sich unzählige weitere aneinander vorbei. 
Sie fliehen, dachte sie bedrückt, Das Feuer hat noch nicht einmal die Grenze erreicht. Das Mädchen fuhr herum, als ihr jemand auf die Schulter tippte. Carol stand hinter ihr und bewegte den Mund. Kein Ton kam heraus. Verwirrt nahm Hope die Kopfhörer ab. 
„Ja?“ 
„In welcher Welt warst du denn?“, lachte Carol, „Sol will so schnell es geht weiter und du hinkst der Gruppe hinterher.“ 
„Du weißt am besten, wo ich war.“, grummelte sie missmutig und schob sich hinter Carol durch die Menge. Die Musik ließ sie leise weiterlaufen. 
Die anderen warteten an einer Infokarte der Stadt auf sie. Der obligatorische rote Punkt schwebte über Rheas Kopf. Sol stand neben dem indischen Mädchen und gestikulierte wild über dem Straßennetz. Hope seufzte. So viel Enthusiasmus war bestimmt nicht gesund. 
Die Kopfhörer wurden ihr von den Ohren gezogen. Mit einem leisen Aufschrei wirbelte sie herum und hob das Knie, bereit für einen Tritt in die Magengrube. Den sie nicht ausführte, als sie in Djangos feixendes Gesicht sah. 
„Was?“, fuhr sie ihn an. 
„Nichts, wollte nur testen, ob die angewachsen sind.“, grinste er und für einen kurzen Moment war Hope versucht, ihm das Grinsen aus der kanadischen Visage zu polieren. Nein, sie hatte nichts gegen Kanada, aber ein Land aus dem so ein arroganter Angeber kam, konnte sein Image auch nicht mit noch so vielen Bibern und Nordlichtern aufwerten. Sie beschränkte jedoch nur auf einen giftigen Blick. Er war es einfach nicht wert. 
„Jetzt hab dich nicht so. Das sollte nur ein Vorwand sein, um mit dir ins Gespräch zu kommen.“, verteidigte er sich. Sein Lächeln war dabei so übertrieben charmant, dass sich Hope es anders überlegte. Ihre Faust traf den Jungen ins Gesicht und sie war ein klein wenig enttäuscht, als sie kein Knirschen hörte. 
Django jaulte auf und presste sich die Hand auf die Nase. Blut rann zwischen seinen Fingern. Zufrieden wandte Hope ab und ging zu den anderen. Geschah ihm recht. Konnte er sie nicht einfach in Ruhe lassen? Seit sie sich kannten provozierte er sie am laufenden Band und Hope war eigentlich niemand, der zu Gewalt neigte. Mit allen anderen verstand sie sich gut. Selbst mit Hjördis, obwohl diese ihr nach den ersten drei Tagen auf einem Zimmer die Kopfhörer mit Sekundenkleber am Handy festgeklebt hatte. Aber inzwischen genügte sein bloßer Anblick, um sie auf die Palme zu bringen. 
„Wir wären dann vollzählig.“, rief Newt, der hinter Josiah und Chloé kaum zu sehen war. Hope würde es zwar niemals zu geben, aber seine Fähigkeit beruhigte sie. Seit Sol vor zwei Tagen entführt worden war, war sie selbst viel schreckhafter. Aarons Tod hatte auch nicht gerade zur Verbesserung ihres Gemütszustandes beigetragen. 
Die Gruppe setzte sich in Bewegung. Hope waren die Blicke der Leute unangenehm. Natürlich erweckten sie Aufsehen. Zehn Jugendliche, die nicht zusammenpassten, angeführt von einer ununterbrochen redenden Japanerin. Wären sie mit einem Erwachsenem unterwegs, wären sie vielleicht noch als Schulklasse oder als Touristengruppe durchgegangen, aber die ältesten unter ihnen waren gerade mal 16 und Hope bezweifelte, dass Sol den Weg ohne Newt gefunden hätte. 
„Warum blutet er?“, fragte Carol, die neben ihr lief und sich nach Django umgedreht hatte. 
„Weil er ein Idiot ist.“, erwiderte Hope trocken. 
„Ich wusste nicht, dass Idiotie sich durch Nasenbluten äußert.“, schnaubte Carol belustigt und drehte sich noch einmal nach Django um. 
„Ist ein ganz neues Phänomen.“, sagte Hope und zog ihre Freundin gerade noch rechtzeitig zur Seite, bevor diese gegen einen Laternenpfahl lief. Verwirrt registrierte sie das feine Lächeln, das Carols Lippen umspielte. Sie warf ihr einen fragenden Blick zu. 
„Er mag dich.“, antwortete das Mädchen zögerlich. Hope schwieg. 
„Nein, jetzt ehrlich. Frag Josiah, der wird dir das bestätigen.“, redete Carol weiter. 
„Warum macht er dann das alles?“, fragte sie beinahe verzweifelt. 
„Weil Männer primitiv sind. Sie denken, sie schinden damit Eindruck.“ 
Das geht aber nach hinten los. Ich will einfach nur meine Ruhe. 
„Eine blutende Nase ist eigentlich ein eindeutiges Zeichen, das du deine Ruhe willst. Schade, so schlecht sieht er gar nicht aus.“, grinste das dunkelhaarige Mädchen fröhlich. 
„Carol!“, rief Hope übertrieben entsetzt und knuffte ihrer Freundin in die Seite. 
„Zugegeben, sein Kleidungsstil ist etwas... seltsam, aber das kriegst du schon noch hin.“, lachte Carol und lief beinahe wieder gegen eine Laterne. Hope fiel ebenfalls ins Lachen mit ein, aber eher weil ihr die Idee so abwegig vorkam. Selbst wenn er sie etwas mehr als nur mochte, erwiderte sie es noch lange nicht. Der Zug war schon vor Wochen abgefahren. Falls er jemals an ihrem Bahnhof gehalten hatte. 
Warum lachst du, während die Welt in Trümmern liegt? Alles was du liebst, ist zerstört und tot. Du hast nicht das Recht, glücklich zu sein, überkamen sie plötzlich die Schuldgefühle. Mit ihren Freundinnen hatte sie ebenso gelacht, über die gleichen Themen. Ihre Freundinnen waren vermutlich alle tot, dahingerafft von Erdbeben oder Wellen. Oder sie lebten jetzt unter furchtbaren Bedingungen in einem der unzähligen Notunterkünfte am Rande von Europa. Genauso war es auch mit ihrer Familie. Seit sie am Tag vor der Katastrophe mit ihren Eltern telefoniert hatte, hatte sie nichts mehr von ihnen gehört. Hope hatte am nächsten Morgen von ihrer Gastmutter davon erfahren. Verdammter Schüleraustausch! 
Carol sah sie mitfühlend an. Ihr Blick jagte Hope einen unangenehmen Schauer über den Rücken. Ihre Gedanken gehörten ihr und sonst niemandem. Sie wollte kein Mitgefühl; Sie wollte, dass sie jemand aufweckte und ihr sagte, dass alles nur ein verrückter Traum gewesen sei. Carol sollte sich aus ihrem Kopf heraushalten. 
„Ich... ich geh dann mal.“, murmelte Carol kleinlaut und wandte sich zum Gehen. 
„Carol, warte.“, rief Hope verzweifelt, doch ihre Freundin war schon traurig zu Chloé getrottet. Sie verfluchte sich innerlich. Als ob es nicht reichte, dass sie schon alle ihre Freunde verloren hatte. Nein, sie musste auch ihre neue Freundin vergraulen. 

Der Bahnhof kam in Sicht und der Regen wurde stärker. Er kam Hope noch grauer als der Regen zuhause vor. Die Ansagen auf Koreanisch verstand sie nicht. 
„Asche.“, hörte sie Josiah rufen. Sie betrachtete einen Tropfen, der auf ihrer Hand gelandet war. Er wirkte normal, bis sie ihn sich näher ans Auge führte. Kleine, schwarze Partikel schwebten darin, wie Verunreinigungen in einem Kristall. 
Hope betrachtete die Hochhäuser um sich herum. Die Asche konnte auch von der Industrie, dem Smog und dem Hafen kommen. Sie musste nicht unbedingt von Feuer und von Europa stammen. 
Ihr war klar, dass sie sich selbst belog. 
Mit der Asche kommt der Regen und dann der Schnee. Es ist nur eine Frage der Zeit, erinnerte sie sich an eines der Trainingsgespräche mit Ms. Coulson, danach wird alles härter werden. 
Die unsichtbare Uhr, die seit Wochen über ihren Köpfen hing, hatte zu ticken begonnen.

World of MysticWo Geschichten leben. Entdecke jetzt