Das wahre Gesicht

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Hjördis hasste Teleportieren. Nicht, dass sie besonders viel Erfahrung darin hatte. Das Gegenteil war der Fall. Beim ersten Mal hatte ein Tsunami sie ausgeknockt und das zweite Mal war nun ja... jetzt. 
Als Tulio die Augen schloss, vernahm sie das Klirren von milliarden zerberstender Luftteilchen. Der Boden und mit ihm die Welt verschwand. Sie schwebte im endlosen Raum. Kein Geruch, kein Ton, nicht mal Temperatur. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. 
Im nächsten Augenblick krachte die Realität in Form eines russischen Vorgartens auf sie zu. 
Taumelnd erhob Hjördis sich. Ihr Magen rumorte und all ihre Sinne spielten verrückt. Sie sollte nicht hier sein. Ihr Füße sollten noch auf dem Dach von Hibikos Haus stehen und nicht auf einem braunen Rasen. 
Es war kalt. Bleigraue Wolken hingen am Himmel. Vereinzelte graue Schneeflocken sanken herab. Die Asche war auch hierhergekommen. Wie Tulio gesagt hatte, schmeckte die Luft danach. 
In ihrer Brust verdichte sich die Leere, die sie seit Satori Industries begleitete. Es war keine 48 Stunden her. Sie schüttelte sich. Nicht daran denken, verbot sie sich selbst. 
„Alles in Ordnung?“, riss sie Karus besorgte Stimme aus den Gedanken. Sie hob den Kopf. Ihre Augen brannten. 
„J-ja.“, stotterte sie heiser. Ihre zitternden Hände vergrub sie in den Taschen ihrer Jeans. 
„Notiz an mich selbst: Hjördis nicht mehr teleportieren.“, murmelte Tulio hinter ihr. Fast hätte Hjördis laut gelacht. Am besten sollte man sie nirgendwo mehr mitnehmen, egal auf welche Weise. 
Dennoch folgte sie den anderen drei zur Tür des kleinen Bungalows. Er war in einem fröhlichen Zitronengelb gestrichen, doch auch hier hatte die Asche volle Arbeit geleistet. Oder vielleicht war es auch nur das seltsame Licht, dass die Hauswand in einen dreckigen Sumpf verwandelte. Die Jalousien waren heruntergelassen, obwohl es Tag war. 
Der Name auf dem Klingelschild war von einem feinen Asche- und Staubfilm bedeckt. Verblasst konnte sie einen kyrillischen Namen lesen. 
„Der Mann, der hier mit seiner Familie wohnt, heißt Andrej Kolesnikow. Er arbeitet seit fast zwanzig Jahren für ATLAS.“, erklärte Tulio auf eine Frage von Hannah, die Hjördis nicht ganz mitbekommen hatte. Auch jetzt hörte sie nur mit halben Ohr zu. Was tun wir hier? Warum sind wir nicht einfach im Fort geblieben und wären von da aus in die Wälder aufgebrochen? Dann wären wir nie nach Japan und Aaron... und... 
Das Scheppern der Türklingel riss sie aus den Gedanken. Aus dem Inneren des Hauses hörte sie Schritte. Sie waren seltsam gedämpft, fast als versuche derjenige sich anzuschleichen. In ihr spannte sich alles an. Die Schritte hielten dicht vor der Tür. Er wartet
„Keiner da?“, fragte Tulio verwirrt. Hjördis wollte gerade etwas erwidern, als ein Riegel zur Seite geschoben wurde und ein mehrfaches Klicken das Drehen eines Schlüssels im Schloss veriet. Die Tür wurde einen Spaltbreit aufgestoßen. Der doppelte Lauf einer Schrottflinte richtete sich auf Tulios Brust. Eine bärbeißige Männerstimme knurrte etwas auf Russisch. Für Hjördis klang es eindeutig wie eine Aufforderung, sofort zu verschwinden. 
„Was für ein freundlicher Empfang, Andrej.“, verkündete Tulio fröhlich. Wie die Stimmungen dieses Kerls funktionierten, war Hjördis noch immer ein Rätsel. 
„Wir hätten ja vorher angerufen, aber irgendwas stimmt mit eurer Leitung nicht. Ich bin's Luft, aktuell bekannt unter Tulio.“, grinste der Junge und winkte dabei leicht. 
„Das letzte mal, als ich dich gesehen habe, hießt du noch Michael und warst Australier.“, grummelte die Stimme hinter der Tür auf Englisch. 
„Man kann sich nicht alles aussuchen.“, seufzte Tulio, „Lässt du uns jetzt rein? Hier draußen ist es saukalt.“ 
„Beweis!“, knurrte die Stimme. Mehr als nur vorsichtig, dachte Hjördis und machte sich sprungbereit. 
„Na gut.“, grummelte Tulio und sie konnte sein genervtes Augenverdrehen beinahe körperlich spüren. Ein leises Rauschen ließ sie herumfahren. Leichter Wind hatte sich erhoben und wirbelte Blätter in einem perfekten Kreis auf. 
Der Gewehrlauf in der Tür senkte sich ein wenig. „Das sollte vorerst reichen.“, murmelte die bissige Stimme. Die Tür wurde aufgestoßen und Hjördis sah sich einem kräftigen Mann im mittleren Alter gegenüber, der sie durch die Gläser seiner Brille mit einer Mischung aus stiller Wut, Vorsicht und leichter Überraschung musterte. 
„Kommt rein.“, bellte er und trat zur Seite. Zögerlich folgte Hjördis Hannah in den düsteren Flur des Hauses. Der Geruch von Holzfeuer, gekochten Kartoffeln und starken Alkohol stieg ihr in die Nase. Der Mann, Andrej, ging hinter ihr. Ohne sich umzudrehen war sie sich sicher, dass er die Schrotflinte noch immer erhoben hatte. 
Der Flur endete in einem kleinen Wohnzimmer in dem ein offener Kamin und die schmalen Streifen Tageslicht, die durch die Jalousien fielen, das Einzige waren, was den Raum erhellte. Auf dem Sofa saßen ein weiterer Mann und eine Frau, beide etwa in Andrejs Alter. Auf dem Schoß der Frau saß ein kleines Mädchen im Einhornpyjama und hatte den Kopf in ihrer Halsgrube versteckt. Ein Junge, vielleicht einige Jahre älter als das Mädchen, musterte die Neuankömmlinge.
Die Stimmung im Raum war geprägt von Angst, Misstrauen und Neugier. Der starke Alkoholgeruch, den Hjördis schon am Anfang gerochen hatte, ging eindeutig vom Mann aus. Seine Augen waren glasig und er war der einzige der eher an ihnen vorbeisah, anstatt sie direkt zu beobachten. Ihr war es recht. Die Blicke der anderen Personen reichten ihr bereits, um sich unwohl zu fühlen. 
Andrej sagte etwas auf Russisch und die Frau auf dem Sofa entspannte sich leicht. Sie strich dem Mädchen, das wohl ihre Tochter sein musste eine Strähne aus dem Gesicht. Hjördis schluckte. Genau das hatte ihre Mutter auch immer getan, als sie sie vor Jahren noch ins Bett gebracht hatte. 
Sie riss sich von dem Anblick los, als Andrej sie in ein kleines Schlafzimmer führte. Auch hier war es durch die verdeckten Fenster dunkel. 
„Das waren meine Frau Tatjana und mein Bruder Kolja. Ich hab ihnen erzählt, dass ihr Arbeitskollegen seid. Tatjana weiß über ATLAS Bescheid, Kolja nicht. Und er sollte es auch nicht unbedingt erfahren.“, sagte Andrej und schloss die Tür hinter sich. Die Schrotflinte lehnte er gegen die Wand. 
„Was sollte dieser unfreundliche Empfang? So kenne ich dich gar nicht.“, erwiderte Tulio und kniff die Augen zusammen. Erst jetzt fiel Hjördis ein, dass sie vermutlich die Einzige war, die normal sehen konnte. 
„Entschuldigt die Reaktion, aber nachdem uns die Nachrichten von Europa erreichten, gab es heftige Krawalle im ganzen Land. Die Geschäfte wurden geplündert und es gab zahlreiche Einbrüche und auch einige Morde. Der Schnee macht es nur noch schlimmer. Inzwischen bewacht das Militär die Innenstadt.“ 
Für Hjördis war das nichts Neues. In Fukuoka war es nicht weiter aufgefallen, aber auch dort hatte sie Brandspuren an einigen Häusern entdeckt und die Geschäfte waren nicht nur wegen den Neujahrsfeierlichkeiten geschlossen gewesen. Vermutlich hatten die Menschen dort noch die letzte Gelegenheit zum Feiern genutzt, bevor die wirkliche Krise begann. Die Anderen hatten ihr auch von den Massenpaniken berichtet, bevor sie ins Fort gekommen waren. 
Menschen taten schreckliche Dinge, wenn sie Angst hatten. Sie selbst wusste das nur zu gut. Selbst nach zahlreichen Händewaschen spürte sie noch immer das klebrige Blut auf ihrer Haut. Der Knall der Pistole hallte in ihrem Kopf wieder. Vor ihren inneren Auge sackte er erneut in sich zusammen. Satori Industries hing wie eine der dunklen Wolken da draußen über ihrem Kopf. Zwar ließ dieser Tag sie schlafen, aber verließ sie selbst in ihren Träumen nicht. Sie bohrte die Fingernägel in ihren rechten Handrücken. Der Schmerz holte sie zurück. 
„...nicht lange bleiben. Wir haben nicht genügend Vorräte für so viele Personen.“, hörte sie Andrej sagen. 
„Wir bleiben nicht lange. Tulio wird sowieso bald weg sein und wir wollen in den nächsten Tagen weiter.“, antwortete Karu. Wann hatte er das Reden übernommen? 
„Ich kann euch morgen in die Wälder bringen, aber nicht heute, während es schon dunkel wird. Die Ausgangssperre beginnt in zwei Stunden.“, murmelte Andrej zögerlich. 

Das Abendessen hatte aus Bratkartoffeln bestanden, die Tatjana gemeinsam mit Hannah und Malina, ihrer Tochter zubereitete hatte. Tatjana war eine fröhliche Frau, die nur gebrochen Englisch sprach und beim Kochen laut sang. Hjördis bewunderte die Stärke, mit der sie die Situation meisterte. Nach dem Essen saß sie strickend auf der Couch und unterhielt sich mit Karu auf Russisch. Jördis wusste nicht, was sie mehr verwunderte. Das Karu Russisch sprach oder das er besser strickte als die Gastgeberin. 
Kolja war ihr hingegen suspekt. Andrejs Bruder war schweigsam und abwesend, was nicht nur daranlag, dass er druchweg betrunken war. Er zeigte kein Anzeichen von Verwunderung, dass vier, mittlerweile nur noch drei fremde Jugendliche hier übernachteten. Er schien sie gar nicht erst wahrzunehmen und war direkt nach dem Essen zu Bett gegangen. 
Sie lächelte leicht, als sie Petja und Hannah lachen hörte. Die beiden saßen vorm Kamin und spielten Dame. Zwar verstanden sie kaum etwas von dem, was der andere sagte, aber nachdem sich das Misstrauen des Jungen erst einmal gelegt hatte, war Sprache kein Hindernis mehr. Es das erste mal, dass Hjördis Hannah lachen hörte. 
Alles an diesem Moment schien perfekt. Nur sie fühlte sich nicht als Teil davon. Zwar saß sie mit Malina auf dem Boden und zeichnete der Achtjährigen Einhörner vor, die diese dann begeistert ausmalte, aber irgendwas fehlte. Sie wusste nicht was es war, aber es hatte etwas mit dem Loch in ihrer Brust zu tun. Als hätte sie verlernt auszuatmen. 

Sein Blut klebte an ihren Händen. Leuchtend rote Punkte auf ihrer Haut, die nach Eisen und Angst rochen. Sein Röcheln fuhr ihr durch die Knochen, doch der Ball aus Kälte in ihrem Inneren blieb. Ihr Finger krümmte sich um den Abzug und beendete es. 
Der Knall schreckte sie auf. Panisch blickte sie sich um, nur um zu erkennen, dass sie auf einer Matratze im Wohnzimmer der Kolesnikows lag. Das Feuer war ganz herunter gebrannt und nur einige glühende Kohlen spendeten rötliches Licht. Ihr Herz raste und ihre Hände zitterten unkontrolliert. 
„Was ist los?“, murmelte Karu verschlafen und drehte sich zu Hjördis. Seine Augen spiegelten das wenige Licht. 
„Nichts. Schlaf weiter.“, versuchte sie ihn zu beruhigen, doch sie hörte selbst die Unruhe aus ihrer Stimme. Karu schlug die Augen ganz auf. 
„Es ist nie nichts. Wovor hast du Angst?“, flüsterte er leise. Vor mir selbst, hätte sie am liebsten gesagt. 
„Nur ein Traum.“, erwiderte sie, „Vor Träumen muss man keine Angst haben.“ 
Sie schwiegen. Hätte sie nicht seine offenen Augen gesehen und würde sein Herz nicht zu schnell schlagen, hätte Hjördis gedacht Karu wäre wieder eingeschlafen. 
„Denkst du auch manchmal an zuhause?“, fragte er schließlich. 
„Jede freie Minute. Aber ich weiß, dass nichts mehr so sein wird wie vorher, wenn ich zurückkehre.“, sie wunderte sich selbst über ihre Ehrlichkeit. 
„Stimmt. Bei dir und vielen anderen ist es schlimmer.“, in seiner Stimme schwang etwas mit, das Hjördis selten gehört hatte. Kein Mitleid, sondern aufrichtiges Mitgefühl. 
„Es liegt nicht nur an den Häusern und daran, dass alles zerstört ist. Nach allem, was wir erlebt haben und vermutlich noch erleben werden, denkst du da immer noch, wir wären die gleichen?“ 
Er schwieg eine ganze Weile lang, dann stütze er sein Kinn auf den Ellbogen und musterte sie von seiner Matratze aus. 
„Nein, wir sind die, die wir immer waren. Das ist die Seele von Katastrophen. Sie zeigen das wahre Gesicht der Menschen.“
Jetzt war es an ihr zu schweigen. Das wahre Gesicht der Menschen. Was war ihr wahres Gesicht? 
„Wir sind alles andere als Helden.“, wisperte sie mit einem schwachen Lächeln und sah an die Decke. 
„Würde ich jetzt nicht sagen.“, erwiderte Karu. Sie konnte sein ebenfalls schwaches Lächeln hören. 
„Wir sind Kinder, und Helden gibt es nur in der Fiktion.“, sagte sie bitter. Früher, als sie noch so alt war wie Malina, hatte sie selbst noch an Helden geglaubt. Dieser Glaube war spätestens seit Satori Industries verraucht. 
Er antwortet nicht mehr, sondern sah sie nur lange an. In der Dunkelheit nahm sie zwar mehr wahr als er, aber dennoch kam es Hjördis vor, als würde er mehr sehen als sie. Langsam hob er seine Hand. 
„Darf ich?“, fragte er zögerlich. Es klang verlockend. 
In dem Moment als seine Haut auf ihr traf, wusste sie, dass er es wusste. 

Es war viel zu einfach gewesen. Ihr Finger hatten sich um den Abzug gekrümmt und die Kugel traf. Natürlich traf sie. Hjördis war in diesem Moment so erschreckend klar gewesen. Da war der Ausweg. Da war der Wachmann. Sein Herz hatte schneller geschlagen als ihres und unregelmäßiger. Da war Aaron hinter dem Gitter, da war die Waffe in ihrer Hand. Die Schlagader des Mannes hob sich deutlich von seinem Hals ab. Selbst in völliger Dunkelheit hätte sie ihn nicht verfehlt. Ein Schuss gefolgt von einem Schrei. Sie ging neben dem Mann auf die Knie und beendete kalt, was sie begonnen hatte. Seine eigene Waffe war ihm aus der Hand gefallen. Der Wachmann bei Aaron hatte sie mit entsetzen geweiteten Augen angestarrt. Danach war sie nur noch gelaufen. Wie sie die Pistole verloren hatte und wie sie zurück übers Tor zu den anderen gekommen war, wusste sie nicht mehr.

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