Schwertkampf

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Hannah vernahm das Waffengeklirr bereits von Weitem. Stahl auf Stahl. Das Lied der Schlacht klang anders als sie es aus Filmen gewohnt war. Weniger ruhmreich. Ohne Hörner und Trommeln. 
Sie bog um die Schmiede und betrat den Übungsplatz. Auf dem groben Sand trainierten bereits einige Andere. Kallik und Mr Jariwan – einer der Nahkampftrainer – schlugen auf einander ein, doch es wirkte weniger wie ein Kampf, mehr wie ein Tanz. Der Tanz von zwei aufgerichteten Kobras mit geblähtem Nackenschild. Auch wenn eine von ihnen mehr wie eine Regenbogenschlange aussah. 
Ansonsten war nicht viel los. Zwei Jugendliche schlugen sich eher lustlos mit stumpfen Übungsschwertern und ein Mädchen versuchte sich unter Mr Cummingfields strengen Blick an Schlagabfolgen. Dabei traf sie sich mit der Axt einmal beinahe selbst am Bein, was der Trainer mit einem traurigen Kopfschütteln quittierte. 
Hannah hörte das Mädchen wütend knurren und sah, wie es die Axt in den Sand warf und davon stürmte. Sie könnte es ihm nicht verdenken. Alle gerieten hier ans Ende ihrer Nerven. Über dem ganzen Fort hing eine Wolke aus Resignation und Ungewissheit. Seit man Hannah vor sechs Tagen hierher gebracht hatte, hatte sie nichts mehr von ihrer Familie gehört. Wie viele andere auch war sie vom Beben in der Schule überrascht worden. 
Die Dreizehnjährige erinnerte sich noch genau wie im Matheunterricht Boden und Decke anfingen zu wackeln. Genau wie ihre Mitschüler hatte über die unwillkommene Ablenkung geschrien. Staub war von der Decke gerieselt, während sich alle unter die Tische verkrochen. Die Tafel schwankte bedenklich. Schließlich hatte ihre Lehrerin Frau Wagenbach entschieden, dass es im Gebäudeinneren zu gefährlich wäre. Teile der Deckenplatten waren neben Hannah heruntergekracht, als sie und ihre Mitschüler mit den Schultaschen über dem Kopf nach draußen stürmten. 
Der Schulhof war ein Schlachtfeld gewesen. Trümmerteile, umgeknickte Laternenmasten, Staub auf allen Dingen. Die Erde bebte weiter. Überall rannten, standen, lagen Menschen. Schreiend, blutend, tot. Die Sirenen der Einsatzwagen heulten noch immer in ihrem Kopf. 
Hannah schüttelte sich und sperrte die Erinnerungen fort. Sie war dort rausgeholt worden, bevor sie die Chance erhielt, im Chaos nach ihren Eltern zu suchen. Ihre Eltern. Wo sie jetzt wohl waren? Suchten sie nach ihr? Zweifellos stand ihr Name auf einer der zahlreichen Vermisstenlisten, die nach solchen Katastrophen angelegt wurden. Doch das blieb im Ungewissen, wie alles, das außerhalb der schützenden Palisaden des Forts geschah. Da waren nur die verstörenden Berichte der anderen Jugendlichen, die im Stundentakt hier eintrafen. Die, die sich in akuter Gefahr befanden, waren als erstes hierher geholt worden, doch seit den Bränden in Asien kam Tulio kaum mit dem Teleportieren nach. 
Das war der Grund, warum sie alle hier waren. Zum ersten Mal in ihrem Leben traf Hannah auf Menschen mit ähnlichen Talenten. Man brauchte ihre Fähigkeiten, um herauszufinden, warum Schulen einstürzten und Tsunamis ganze Landstriche verwüsteten. Zum Beispiel das Mädchen auf der Krankenstation. All seine Sinne waren stark sensibilisiert. Entsprechend sensibel reagierte es auf Gerüche. Oder Lapis. Die war sogar noch besonderer. Die scheinbar Fünfzehnjährige kontrollierte die Erde – und war unsterblich. Sonst hätte sie wohl kaum die Spritze im Hals überlebt. 
Hannah überlegte, ob sie sich schuldig fühlen sollte. Schließlich hatte sie gestern Krankendienst gehabt und nicht ausreichend auf Hjördis geachtet. Wer hätte auch damit rechnen können, dass sie ausgerechnet aus dem Koma erwacht, wenn Hannah gerade auf der Toilette war? Irgendwie war es ja auch Lapis Schuld. Man sagte einer komplett desorientierten Person mit einer Spritze in der Hand nicht im gefühlskalten Ton, dass Europa nicht mehr existierte. 
Nun blieb Lapis nichts anderes übrig, zwei Tage lang zu schweigen und grimmig beim Training zuzusehen. Hannah sah den weißen Verband an ihrem Hals durch die Bäume leuchten. 
Was sollte sie jetzt tun, fragte sich Hannah. Schießtraining war wie alle anderen Fernkampfübungen erst am Nachmittag. Pflanzenkunde fand sie langweilig. In der Schmiede war nichts los und sie hatte weder Krankendienst, noch andere Arbeiten zu erledigen. Blieb ihr nur eins. Nahkampf. 
Hannah lief über den Platz und hob eins der achtlos fortgeworfenen Übungsschwerter auf. Es war schwerer als sie erwartet hatte. Sie schwang es probehalber. Es klirrte als Mr Cummingfield unerwartet parierte. 
„Was wird das hier?“, fragte der Waffenlehrer. Durch seinen amerikanischen Akzent hatte Hannah Schwierigkeiten ihn zu verstehen. 
„Ü-Üben?“, stotterte sie. 
„Ohne Trainer? Lass mal sehen was du kannst.“, forderte er sie auf. Hannah sah ihn zweifelnd an. Er stach mit seinem Schwert nach ihr und sie sprang zurück. 
„Gute Reflexe.“, lobte er sie. In seinen grauen Augen funkelte es und er schlug erneut nach Hannah. Sie parierte unbeholfen. Nun versuchte sie selbst eine Gegenattacke. Jeder ihrer Schläge wurde mühelos geblockt. 
„Schwertkampf ist nicht nur hirnloses aufeinander Einschlagen. Du musst meine Schwächen finden, um mich zu besiegen. Wo sind Schwachstellen?“ 
„Keine Ahnung.“, keuchte Hannah. 
„Beispiel Achselhöhlen. Ein Schnitt und dein Gegner kann den Arm nicht mehr richtig bewegen.“ 
Mr Cummingfield traf sie an der Hüfte. Sie taumelte. Ein Sandkorn war in ihr Auge gelangt. Hannah wischte sich die Stirn und die Träne weg. Dann stürmte sie auf ihren Trainer zu. Und lief an ihm vorbei. Bevor sie sich zu ihm umdrehen konnte, traf sie ein Schlag im Rücken. 
Hannah versuchte sich aufzurappeln, doch das Gefühl von kaltem Stahl in ihrem Nacken hinderte sie daran. 
„Wären diese Schwerter echt,“, hörte sie Mr Cummingfields raue Stimme, „Wärst du tot. Dreifach.“ 
Er nahm das Schwert von ihrem Hals und half ihr beim Aufstehen. 
„Du bist gut. Andere wären sieben Mal gestorben.“ 
Während Hannah nach Atem rang, kontrollierte der Trainer ihren Griff und nahm hier und da kleine Verbesserungen vor. 
„Stell dich mal anders hin. Ja genau so. Jetzt greif mich an. Ich werde nur parieren.“ 
Hannah war zu fertig, um zu sagen, dass sie das für eine schlechte Idee hielt. Sie bekam kaum noch Luft und ihr war seltsam benommen zu Mute. Trotzdem tat sie einige Schritte vor und griff an. Sie wurde mit Leichtigkeit geblockt. Wieder und wieder suchte sie eine Schwachstelle in der Deckung ihres Lehrers, aber er war zu schnell. Sie tänzelte um ihn herum, versuchte Scheinangriffe und Finten. Zwecklos. 
Unerwartet traf sein Schwert auf das ihre.
„Hey!“, rief sie. 
„Lektion 2: Vertraue nie deinen Lehrer.“, grinste er und treib sie über den Platz. Hannahs ohnehin schon unregelmäßiger Atem kapitulierte im Angesicht von weiteren sportlichen Aktivitäten. Schwarze Löcher tanzten und sie bekam keine Luft mehr. Am Ende war es nicht Mr Cummingfield, der sie besiegte, sondern ihr verdammtes Asthma. 

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