Kriegsrat

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Draußen prasselte der Regen gegen die Scheiben. Seit einigen Stunden regnete es jetzt und das Wasser spülte die Reste des Neujahrsfestes in die Rinnsteine. Der Verkehrslärm klang gedämpft in die kleine Wohnung. 
Karu rieb sich den verspannten Nacken und blätterte weiter. Er verstand zwar kein Wort, von dem, was er las, aber zählen konnte er. Es waren zu viele. 
Ihm gegenüber hockte Hibiko im Schneidersitz. Auf seinem Schoß ruhte der Aktenordner. Der Kugelschreiber des Jungen kratze über dem Block neben ihm. Die Seite war beinahe vollständig beschrieben. Karu fragte sich, wie man eine so kleine Handschrift besitzen konnte. 
Hinter ihm atmeten Hjördis und Hannah leise. Die beiden Mädchen schliefen, obwohl es bereits elf Uhr morgens war. Hannahs blonde Haare waren ihr ins Gesicht gefallen. Sie schlief ganz am Rand des ausziehbaren Sofas und war nur noch wenige Zentimeter vom Sturz auf den Boden entfernt. Das Rascheln des Papiers, das Kratzen und die gleichmäßigen Atemzüge waren das Einzige, das die markerschütternde Stille durchbrach. 
Ein Regentropfen schlug laut gegen das Fenster. Karu sah nicht auf, sondern malte nur einen weiteren Namen auf seine Liste. Vor ihm lag der Haufen Klemmbretter, den Aaron und Hjördis gestohlen hatten. Das Papier war an vielen Stellen eingerissen und verknickt. Hjördis hatte sich nicht sonderlich viel Mühe gegeben, die Unterlagen ordentlich einzupacken. Verständlich. 
Erneut schlugen einige besonders dicke Tropfen gegen die Scheibe. 
„Gehört der da zu euch?“, fragte Hibiko beiläufig. Karu drehte sich um und riss überrascht die Augen auf. Draußen auf dem baufälligen Balkon grinste ihn ein altbekanntes Gesicht an. 
„Leider.“, murmelte Karu und ging zur Tür, „Das ist Tulio.“ 
„Ist er wie ihr?“, Hibiko beobachtete Tulio abschätzig. Karu konnte es ihm nicht verdenken. 
„Nein, er ist... was anderes.“ 
„Hey, diese Scheibe ist nur sehr dünn. Ich kann euch immer noch hören!“, rief Tulio von der anderen Seite. Karu seufzte und öffnete die Tür. Tulio sprang in den Raum und schüttelte sich wie ein Hund. Regentropfen flogen durch den Raum. 
„Warum kommst du nicht wie jeder normale Mensch durch die Vordertür?“, fragte Karu und wischte Wasser aus dem Gesicht. 
„Normal ist langweilig.“, verkündete Tulio lachend und verteilte noch mehr Regen, „Außerdem bin ich auf dem Dach rausgekommen und die Tür zum Treppenhaus lässt sich von außen nicht öffnen.“ 
„Verstehe.“, sagte Karu, verstand aber in Wirklichkeit gar nichts. Statt weiter nachzuhaken, schloss er die Balkontür. Erstaunt stellte er fest, dass die beiden Mädchen noch immer schliefen. Hannah war ein kleines Stück näher an den Rand gerollt. 
Er nahm einen Stapel Akten und drückte ihn Tulio in die Hand. „Jetzt, wo du schon mal da bist, kannst du dich ja nützlich machen. Die Hälfte bin ich schon durchgegangen. Schreib einfach die Namen raus.“ Karu setzte sich wieder und widmete sich seinem nun wesentlich kleineren Stapel. Als er bemerke, dass Tulio nicht reagierte, sah er auf. „Was?“ 
„Ich spreche kein Japanisch.“, protestierte Tulio verwirrt und starrte auf die Klemmbretter. 
„Nicht?“, ein leichtes Lächeln stahl sich auf Karus Gesicht, „Ich dachte ihr Elements seid so sprachtalentiert.“ 
Bevor Tulio etwas erwidern konnte, traf ihn ein Handtuch im Gesicht. Er ließ die Akten fallen. 
„Tropf nicht meinen Boden voll!“, sagte Hibiko laut. Er stand an die Badetür gelehnt und betrachtete die Szene mit einer Mischung aus Amüsement und Missbilligung. 
„Jungs, hier versuchen auch noch welche zu schlafen.“, klang eine müde Stimme vom Sofa. Hjördis hatte sich aufgerichtet und rieb sich die Augen. Ihre Haare standen nach allen Richtungen ab und sie sah auch sonst nicht gut aus. Dunkle Ringe zierten ihre Augen und sie wirkte angespannt auf Karu. 
„Tschuldigung“, murmelte Hibiko etwas kleinlaut und schielte zu der Tür, hinter der Minija schlief. Karu hatte von der alten Frau seit gestern Abend nicht mehr viel gesehen. Das rhythmische Schnaufen, das kaum hörbar aus diesem Raum scholl, hatte er schon vor einer Weile ausgegrenzt. Die alte Dame hatte wohl Lungenprobleme. 
„Was habt ihr bis jetzt?“, fragte Tulio und trocknete sich die Haare mit dem Handtuch. Inzwischen hatte er sich neben seinen Stapel gesetzt und blätterte ein wenig in einem Klemmbrett. Karu setzte sich neben ihn. 
„Nicht viel.“, erklärte Karu etwas resigniert. „Ich kann auch kein Japanisch und hab einfach nur die Namen rausgeschrieben, beziehungsweise gezeichnet. Das an den Klemmbrettern sind alles Datenblätter, die zu Krankenakten gehören und Auskunft über die Organe oder so geben sollen.“ 
Er warf einen Blick zu Hibiko, um sich zu vergewissern, dass er alles richtig wiederholt hatte. Sie hatten vor drei Stunden mit der Sichtung begonnen und seine Netzhaut brannte vor Übermüdung. Aber er hatte nicht aufgehört. Erst musste er sich Klarheit über die Situation verschaffen. Erst dann durfte er sich ausruhen. Das war er Aaron schuldig. 
„Ich hab hier die komplette Akte eines Mädchens namens Dai Kurosawa.“, 
„Kurosawa. Wie Akira Kurosawa?“, fragte Tulio verdutzt. Karu sah ihn unverständlich an. Kannte der Junge etwa die Familie des Mädchens? 
„Eher nicht. So selten ist der Nachname nicht. Sie war elf, als sie zu Satori Industries gebracht wurde.“, die letzten Worte sprach Hibiko leise. Karu schauderte. Elf. So alt war seine Cousine. 
„Sie haben sie wohl schon zwei Jahre vorher ausspioniert und gewartet bis sich ihre Fähigkeit zeigte. Sie konnte wohl Sachen durch Berührung verfärben. Die Versuchsprotokolle gehen noch bis zu vier Jahre nach ihrer „Sicherstellung“ und nach dem letzten Protokoll folgt ihr Totenschein und weitere Daten über Experimente.“ 
„Das ist widerlich.“, flüsterte Hjördis und setzte sich neben Karu. Er musterte sie kurz von der Seite und drehte sich wieder zu Hibiko. Es war wirklich widerlich. Diese Leute entführten Kinder wegen ihren Fähigkeiten und hielten sie jahrelang zu Forschungszwecken gefangen. Und kein Wort über die Familie und die Gefühle des Kindes. Nur trockene, harte Fakten. Schwarz auf weiß. Am schlimmsten war, dass das Mädchen offensichtlich nicht von allein gestorben war. 
„Hier ist aber so viel, dass ich nicht verstehen. Irgendwelche Werte mit seltsamen Abkürzungen. Und hier ist noch etwas ungewöhnliches.“, Hibiko drehte den Ordner zu den anderen. Karu beugte sich darüber, konnte aber beim besten Willen nicht sagen, was am aufgeschlagenen Dokument ungewöhnlich sein sollte. 
„Es ist auf Englisch. Alles andere ist vermutlich auf Japanisch.“, äußerte Tulio mit gerunzelter Stirn. Karu sah ihn überrascht an. Offensichtlich war er doch nicht so blöd, wie er immer tat. Er überflog schnell den Text und blickte Hibiko fragend an. 
„Genau! Es ist eine Art Zusammenfassung adressiert an „SIA“?“, erklärte Hibiko, „Ich werde da auch nicht schlau draus.“ 
„Ich nehme das Zeug mit und bringe es zu Lapis. Sie kennt sich mit so etwas aus.“, sagte Tulio schnell. Etwas zu schnell für Karus Geschmack. 
„Weißt du etwas darüber?“, fuhr Karu ihn scharf an, als der Junge Anstalten machte, die Unterlagen in seinen Rucksack zu packen. 
„Nein, äh... doch. Ich bin mir nicht sicher. Das... das muss ich mit den anderen besprechen.“, verhaspelte sich Tulio beim Sprechen. 
„Was weißt du darüber?“, warf nun auch Hjördis ein. In ihrer Stimme schwang ein leicht drohender Unterton mit. 
„Nichts, was ich mit euch besprechen sollte. Bitte fragt nicht weiter. Erst wenn ich mit Lapis geredet habe, okay?“, murmelte Tulio abwehrend. 
„Okay.“, sagte Karu und kniff die Augen zusammen. Hjördis sah aus als wollte sie protestieren, doch Karu bedeutete ihr mit einem Blick, es gut sein zu lassen. Er hatte keine Lust auf Streit und sie würden aus Tulio nicht mehr rausbekommen. Eine Bewegung und gutes Timing und ich erfahre es sowieso. 
„Habt ihr schon überlegt, wie ihr jetzt weitermacht?“, fragte Tulio irgendwann zögerlich. Karu wechselte einen Blick mit Hibiko. 
„Wir dachten, dass Hannah, Hjördis und ich nach Komsomolsk reisen und dann weiter in die Wälder.“ 
„Haben wir das?“, rief eine Stimme vom Sofa her. Hannah hatte sich aufgesetzt. 
„Ja, ihr habt noch geschlafen und Karu und ich sind Reiserouten durchgegangen.“, meinte Hibiko müde. Er verkraftet das alles gut. Wildfremde, die plötzlich auf seinem Balkon stehen und eine Menschen jagende Firma, dachte Karu. 
„Schön, das auch mal zu erfahren.“, brummte Hannah und tappte barfuß ins Bad. Karu lächelte leicht. 
„Die letzten Flughäfen haben vor drei Stunden dicht gemacht. Der Regen schmeckt nach Asche. Würde euch eine Kursänderung nach Magadan etwas ausmachen? Liegt weiter nördlich und dort lebt ein Informant von ATLAS.“ 
Karu zog den Atlas unter dem Sofa hervor und blätterte. Magadan. Das konnte funktionieren. 
„Wie kommen wir dorthin?“, fragte Hjördis. 
„Drei krieg ich gerade noch hin. Dann bringe ich die Sachen zu Lapis, komme wieder hierher und betreibe noch ein paar Nachforschungen zu Satori Industries.“, erklärte Tulio gelassen. 
„Klingt machbar.“, erwiderte Hjördis auf Karus fragenden Blick. Er wollte das nicht ohne sie entscheiden. Und nicht ohne Hannah. 
„Mit wieder hierherkommen, meinst du doch hoffentlich nicht wieder in meine Wohnung?“, fragte Hibiko misstrauisch. Karu folgte seinem Blick und sah die gräulichen Flecken vom Regenwasser auf dem Teppich. 
„Aber natürlich meine ich hierher.“, grinste Tulio, „Schließlich kenne ich außer dir niemanden in der Gegend. Außerdem ist das Sofa ja schon ausgezogen.“

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