Erstes Unkraut wuchs auf den aufgeschichteten Erdhaufen. Es waren feine grüne Triebe, mit haarigen Blättern. Behutsam grub sie ihre Finger in die Erde und zog einen Sprössling heraus. Ein kurzer Schmerz brandete in ihren Fingerkuppen auf und reflexhaft ließ sie die Pflanze fallen. Brennnessel, dachte sie, als sie an ihren Fingern saugte.
Clara griff sich an den Saum ihres Shirts und machte sich mit Hilfe dieses Handschutzes daran, die restlichen Pflanzen zu entfernen. Ihre Haut prickelte an der verbrannten Stelle. Sie würde später ein Kühlpatt in der Krankenstation suchen.
Doch erst musste sie die Gräber vom Unkraut befreien. Der Blumenstrauß, den sie vor einer Woche dort abgelegt hatte, war schon verwelkt und sie würde bald einen neuen machen. Vielleicht sogar mit Nathan zusammen.
Nathan.
Ein Gefühl unbestimmter Übelkeit stieg in ihrer Brust auf. Sie hatte es ihm noch nicht gesagt. Wie auch? Wie erklärte man einem Siebenjährigen am besten, das Mummy und Daddy tot waren? Noch hatte sie es nicht übers Herz gebracht. Ihr fehlten einfach die richtigen Worte. Außerdem war Nathan so glücklich im Fort.
Er war schon immer ein lebhaftes Kind gewesen, aber hier blühte er regelrecht auf. Für ihn war das Camp ein riesiger Abenteuerspielplatz. Mit Superhelden.
Besonders Django hatte es ihrem Neffen angetan. Er folgte ihm fast überall hin. Clara war nicht sehr glücklich darüber. Django war ihr suspekt und sie redete eigentlich nur mit ihm, weil sie seine Trainerin war. Er erinnerte sie ein wenig an Phillipe, Nathans Vater, als sie ihn gerade kennengelernt hatte. Ihm haftete eine natürliche Arroganz an, gepaart mit einem ordentlichen Schuss Ehrgeiz und Charme.
Jahre lang hatte Clara versucht ihre Schwester Léa davon zu überzeugen, dass Phillipe nicht der Richtige für sie sei. Doch Léa war stur wie ein Esel geblieben und beinahe hätten sie sich mit ihr zerstritten. Irgendwann hatte sie sich dann mit ihrem neuen Quasi-Schwager abgefunden und ihn in der Familie akzeptiert. Spätestens als Léa schwanger wurde, hatte sie sämtliche Zweifel in den Wind geschossen, nachdem sie die echte Zuneigung in Phillipes Augen gesehen hatte.
Aber Django war noch lange nicht soweit, dass er irgendeine Frau glücklich machen konnte. Dafür fehlte ihm einfach die nötige Reife. Er war einer der wenigen Gründe, warum sie froh war, dass sie die Kinder bald losschicken würden. Dann würde Nathan endlich aufhören ihn mit großen Augen wie den leibhaftigen Flash – sein Lieblingsuperheld – anzusehen und sie könnte sich auch besser um ihn kümmern. Bei dem ganzen Fechttraining mit Team Shadow und dem zusätzlichen Übungen mit Carol in Telepathie fand sie kaum Zeit für ihn.
Clara riss die letzte Pflanze von Léas Grab und warf sie hinter sich. Sie war Neel noch immer dankbar, dass er ihr beim Graben geholfen hatte. Der Nahkampftrainer hatte keine Fragen gestellt und war mitten in der Nacht mit ihr hinter die Streuobstwiese gegangen und hatte bis zur Morgendämmerung mit ihr durchgeschaufelt. Eine bemerkenswerte Geste, wenn man bedachte, dass keines der vier Gräber eine Leiche enthielt.Zwei Tage vorm Weltenbrand – wie die amerikanischen Medien den Tag der Katastrophe pathetisch bezeichneten – war Clara aus ihrem Heimatdorf, wo sie das Wochenende bei ihren Eltern verbrachte, ins Fort beordert worden.
Sie paukte gerade für ihre in einer Woche anstehenden Prüfung in Geschichte, als sie eine Email von Ryan Cummingfield erhielt, mitsamt angehängtem Flugticket, dass sie nur noch auszudrucken brauchte.
Es hatte sie zwar verwundert, aber sie hatte immer gewusst, dass sie irgendwann ins Camp zurückmüsste. Schließlich verbrachte sie jeden Sommer, seit sie fünfzehn war, dort, seit ihrem achtzehnten Geburtstag auch nicht mehr als Auszubildende, sondern auch als Trainerin.
So lief das nun mal bei ATLAS. Wenn ein Mitarbeiter einen Para fand, meldete er dies der Organisation. Der Para wurde dann unter Beobachtung gestellt und wenn sich seine Fähigkeiten als unkontrolliert herausstellten, wurde er ins Fort eingeladen und erhielt eine Ausbildung. Manche entschieden sich danach, für ATLAS zu arbeiten. Entweder als Überwacher, Trainer oder irgendein anderer Job, der gerade anfiel.
Clara selbst arbeitete neben dem Studium als Überwacher von drei Kindern in Mitteleuropa, darunter auch Hannah. Aber bei dem Mädchen hatte sie es nicht für nötig gehalten, es ins Fort zu bringen, da seine Fähigkeit nicht zu unkontrollierten Ausbrüchen neigte oder großen Schaden anrichten konnte.
Sie packte also ihre Tasche und machte sich noch am selben Abend auf zum Flughafen. Im Fort erwarteten sie schlechte Neuigkeiten. Zum ersten Mal seit neun Jahren war Ryans Fähigkeit wieder angesprungen. Offenbar würden bald Hunderttausende sterben. Nur wusste der Cheftrainer nicht genau wann und nicht genau wo.
Am darauffolgenden Tag zerbarst Europa.
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World of Mystic
Science FictionDie Welt, wie wir sie kennen, existiert nicht mehr. Europa wurde in Stücke gesprengt und Asien steht in Flammen. Nordamerika und Russland sind zu einem gigantischen Waldgebiet verschmolzen. Mittendrin einige Jugendliche, die dem Chaos auf den Grund...