Elf

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Mit einem Ziehen im Bauch stieg Milanka aus dem Sattel ihres Pferdes. Sie stand vor dem verlassenen Herrenhaus, das einst ihr Zuhause gewesen war. Nur war der angenehme Duft von Koresanderblüten längst verschwunden und die Fassade war von Rissen und Dreck überzogen. 

Die hohe Tür öffnete sich und zwei Soldaten kamen heraus. "Mitkommen.", knurrte einer und sie gehorchte. Sie wollte weder Nolas noch Wills Leben aufs Spiel setzten. Das Ziehen nahm zu, als sie sah, wie kaputt und zerstört alles war.

Dieser Ort hatte alles für sie bedeutet. Hier war sie aufgewachsen. Und nun war es nur noch eine Ruine, genauso brüchig wie die wunderbaren Erinnerungen an die Zeit vor ihrem 18. Geburtstag. 

Sie führten sie in den alten Empfangssaal, in dessen Mitte eine Gestalt stand, bei deren Anblick ihr Herz selbst nach allem Geschehenen höher schlug. 

"Warden."

Sein Name kam heiser und nur für sie hörbar über ihre Lippen. Er sah sie nicht mehr so an wie früher, sondern voller Hass und Neid auf die Krone. Aber selbst da glaubte sie nur für eine einzige Sekunde Trauer in seinem Blick zu deuten.

"Milanka.", sagte er laut und nickte kaum merklich. 

Die Soldaten verließen den Saal. Warum konnte sie nicht einfach zu ihm gehen und ihn umarmen? Einfach vergessen, was in den letzten zehn Jahren geschehen war? 

Sie schüttelte diesen Gedanken ab. Er war grausam geworden und hatte ihre Untertanen lange terrorisiert. Und dafür hasste sie ihn. 

"Warum bin ich hier?", fragte sie so gefasst wie möglich. "Wir haben uns nichts zu sagen und jetzt lass Will und Nola frei."

Er presste die Lippen aufeinander und ging mit schweren auf sie zu, bis er nur noch wenige Zentimeter vor ihr entfernt stand. Sie hätte nur die Hand ausstrecken müssen...

"Wir haben uns wirklich nichts zu sagen. Aber zu verhandeln. Überlass mir den Thron und die Kinder kommen frei."

Sie schluckte schwer. 

"Ich werde nicht mit dir verhandeln, Warden. Ich bin die Königin des Anderlands. Ich trage die Krone und die Verantwortung. Der Geist der Quelle hat mich erwählt nicht dich. Werde endlich erwachsen und akzeptier diese heilige Entscheidung.", antwortete sie ruhig.

Er packte sie am Arm und selbst nach allem wirkte es, als könnte er ihr nicht wehtun. Jedenfalls nicht körperlich.

"Du bist nicht in der Position, meine Forderung zu unterschlagen. Die Krone oder die Kinder sterben!"

Sie warf jede Vernunft, jedes Wissen und jede Angst beiseite und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige.

"Was ist aus dir für ein grässliches Monster geworden!?", schrie sie. 

Etwas veränderte sich in seinem Ausdruck, als wäre er in einem ewig schlimmen Tagtraum gefangen. Er ließ sie los. 

Plötzlich ging die Tür hinter ihnen auf und Nola und Will kamen hereingestürmt. Hinter ihnen ertönten die Rufe der Soldaten. Die kichernde Katze tauchte neben ihnen auf. 

"Wir sollten gehen.", sagte sie fast schon lachend. 

Warden wollte wieder nach Milanka greifen, aber sie wich seinem Griff aus und rannte zu den Kindern. 

"Seid ihr verletzt?", fragte sie panisch. Als die beiden den Kopf schüttelten, seufzte sie erleichtert. 

Die Soldaten stießen zu ihnen und drohten mit ihren erhobenen Schwertern. 

"Lawewe!", rief Milanka und die kichernde Katze reagierte. 

Sie stellte sich vor die drei und ihr wasserblaues Fell begann leicht zu leuchten. 

Nola sah zu Milanka, die jeweils einen Arm schützend um ihre und Wills Schultern gelegt hatte. Sie richtete sich etwas auf und nahm eine selbstbewusstere Haltung an.

"Ich bin Milanka, die Königin des Anderlands.", stellte sie laut klar.

"Die Göttin der ewigen Quelle des Lebens hat mir diesen Titel und dessen Macht vor genau zehn Jahren übertragen. Das bedeutet, ihr untersteht mir. Nur mir. Und wenn ich nicht gehorcht, dann lernt es durch die Magie des Geistes des Wassers!"

Nola hatte nie erwartet, dass Milanka so solchen Worten fähig war. Aber sie hatte ein Recht darauf, so etwas zu sagen. Zumal, wenn es ihnen das Leben rettete. 

Die Soldaten wirkten tatsächlich etwas verunsichert, rührten sich aber nicht vom Fleck. Lawewes Fell leuchtete immer heller, bis er sich wieder in Wasser verwandelte. 

Als Wasser teilte er sich immer wieder, bis er wie einzelne Spuren durch den Saal zog und langsam die Haut jedes einzelnen Soldaten berührte. 

Kaum tat er das, fielen sie langsam wie Federn in der Luft um und sanken schlafend zu Boden. 

Milanka sah sie alle der Reihe nach an, eher sie die beiden zum Ausgang schob. Lawewe wurde wieder zu einer Katze und folgte ihnen tänzelnd. 

Im Hof fanden sie Maloa, angebunden an einen Baum. Mit der Pfeilwunde konnte sie zwar gehen, aber nicht Nola und Will tragen. 

"Haben sie dich angeschossen?", kicherte die Katze und sprang auf ihren Rücken. 

"Lass den Unsinn und heil mich einfach, Lawewe.", brummte die Stute und die Katze legte eine Tatze auf die Wunde, die sich Sekunden darauf schloss. 

Will und Nola zogen sich in den Sattel und ritten auf Milankas Zeichen hin sofort vom Hof. 

Nur sie blieb noch einem Moment unter dem Baum stehen. "Was tust du jetzt, Königin?", fragte Lawewe. 

"Ich weiß es nicht."

"Wirst du Warden jemals töten können?"

Sie durfte als Königin nicht lügen. 

"Nein."

"Soll es jemand anderes für dich tun?"

"Nein. Jemanden zu töten, ist nicht der richtige Weg, Lawewe."

Die Katze kicherte. "Sagst du das, weil du ihn noch immer liebst?"

Nicht lügen.

"Nein, das tue ich nicht. Nola soll uns retten, das weißt du. Aber sie soll ihn nicht töten. Komm jetzt, lass uns nach Hause gehen."

Sie schwang sich auf den Rücken ihres Pferdes und wollte den Kindern folgen, als eine Hand nach den Zügeln griff. 

"Du bereust das alles irgendwann, Milanka.", drohte Warden mit grollender Stimme.

Die spürte Tränen in ihren Augen und legte ihm eine Hand auf die Wange, an der sie ihn geschlagen hatte. 

"Hör endlich auf, so furchtbar zu sein. Vielleicht vergeben dir die Menschen hier irgendwann."

"Und was ist mit dir?"

Sie überlegte eine Weile. Sie durfte nicht lügen. Auch wenn es sie es in diesem Moment mehr als jemals zuvor wollte.

"Ich bin die Königin, Warden. Ich kann und werde dir niemals vergeben."

"Dann sind wir Feine bis aufs Blut."

Sie nickte und hatte das Gefühl, dass ihr nichts im Leben zuvor so schwer gefallen war.

"Bis aufs Blut."


Nola im Anderland (Storyadaption)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt