Nola hatte dem stillen Uhrmacher wie versprochen alles erklärt, nachdem Chilon wieder in die Stadt gegangen war. Nun saß sie mit Will in einem kleinen Garten hinter dem Schlosshof und drehte eine Blume mit violetten Blütenblättern zwischen ihren Fingern.
"Hey, Will?", fragte sie irgendwann in die Stille hinein. "Was wäre, wenn ich Warden an seine Gefühle für Milanka erinnere? Würde der Fluch dann aufgehoben werden?"
Er zuckte mit den Schultern und lehnte sich erschöpft gegen die Steinmauer hinter ihnen. Er war offensichtlich müde und schloss die Augen. Nola betrachtete ihn verstohlen von der Seite. Alles an ihm wirkte so real. Das goldene Haar, die feinen Gesichtszüge, die funkelnde Kleidung und die Kette der Taschenuhr, die aus seiner Jackentasche hervorlugte. Selbst nach allem was war hatte sie Angst, das Anderland könnte nur ein Traum sein. Aber sie hatte Will und alle anderen lieb gewonnen und konnte sich nicht vorstellen, dass sie sie auf ewig aufgeben musste. Ohne es wirklich zu bemerken, legte sie ihre Hand auf seine und drückte sie leicht. Will öffnete die Augen nicht, aber er lächelte.
"Du wirst mir fehlen, wenn ich wieder nach Hause muss.", murmelte sie und senkte den Blick.
Da riss er doch die Augen auf und sah sie ungläubig an. Er nahm ihre Hand und legte sie auf die Mauer hinter ihnen. Tränen brannten in ihren Augen.
"Ich kann nicht bleiben.", flüsterte sie. "Ich muss irgendwann nach Hause. Wenigstens um meiner Familie zu sagen, dass es mir gut geht. Aber wenn es möglich wäre ... wenn es eine Möglichkeit gibt, um wiederzukommen, dann werde ich nutzen, versprochen!"
Seine Miene hellte sich auf und er zog sie in eine Umarmung. Nola musste trotz allem lächeln. Es war keine Lüge gewesen. Sie würde alles tun, um zurückzukommen.
°*°
Es war der letzte Abend, bevor Nola zu Warden wollte. Sie saß in ihrem Zimmer und ging jedes Wort, jede Zeile, die sie sagen wollte, noch im Kopf durch, als es an ihrer Tür klopfte. Milanka steckte den Kopf herein und lächelte leicht.
"Darf ich reinkommen?"
"Natürlich."
Sie setzten sich beide auf das Bett und Milanka drückte ihr eine von zwei dampfenden Tassen in die Hand.
"Ein Rieculia-Tee.", erklärte sie. "Er soll alle Sorgen vertreiben und das Gefühl von Ruhe vermitteln."
Nola nippte einmal daran. Er schmeckte grauenhaft und war sauer wie Zitronen, aber sie war gerührt von dieser Geste.
"Danke. Milanka, ich ... hab denke ich das Passende gefunden, um Warden zu überzeugen. Aber ich brauche deine Hilfe."
"Natürlich helfe ich dir. Was genau soll ich tun?"
Nola spielte dem Rand ihrer Tasse herum und ließ ihre Finger nachdenklich darum kreisen. Es war ihr beinahe peinlich, das Folgende auszusprechen, aber sie überwand sich.
"Wenn ich alles gesagt habe, was ich gern sagen würde ... es geht dabei um eure Vergangenheit, solltest du wissen, dann ... könntest du Warden ... küssen? Ich weiß, es hört sich dumm an, aber nach allen Regeln der Märchen..."
"Es ist schon gut, Nola.", unterbrach Milanka sie gefährlich leise. "Gib mir bitte Zeit, um darüber nachzudenken. Chilon hat dir alles erzählt, ich weiß. Und ich hab dir erzählt, dass er mir einmal sehr viel bedeutet hat. Ich bin ehrlich zu dir, ich hab ihn schon zuvor geküsst. Aber es hat nicht ausgereicht, um ihn vor dem Fluch zu schützen. Er war Stärke als meine Liebe."
Nola sah selbst im Halbdunkel Tränen in ihren Augen glitzern. Trotzdem blieb sie standhaft wie die Königin, die sie auch war.
"Was sollte es ändern, den Mann zu küssen, der nichts als Unheil über das Anderland gebracht hat?"
"In den meisten Märchen sagt man, dass Liebe stärker ist als jeder Fluch. Ich hab euch damals gesehen, Milanka. Warden konnte dir selbst jetzt nichts zuleide tun. Ich glaube, Gefühle verschwinden nicht einfach. Ich weiß einfach, der Warden, der dich liebt, ist da noch irgendwo."
Milanka seufzte und starrte auf den Boden ihrer Tasse.
"Ach, Kind aus der anderen Welt ... Woher willst du das genau wissen?"
Nola bemühte sich um ein Lächeln.
"Die Göttin einer heiligen Quelle hat mich ausgewählt. Nennen wir es einfach mal einen Instinkt."
Milanka atmete tief durch und erwiderte ihr Lächeln.
"Ich vertraue dir. Es ist wohl unsere einzige Chance, meine Leute zu retten."
"Weißt du, was ein berühmter Autor aus meiner Welt mal gesagt hat? Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es auch nicht das Ende."
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Nola im Anderland (Storyadaption)
FantasíaNola fühlt sich in der normalen Welt überhaupt nicht wohl. Wegen ihrer eigensinnigen Art ist sie eine Außenseiterin. Eines Nachts taucht mitten in ihrem Zimmer ein Rabe mit einem Zylinder auf und führt sie quer durch London, bis zu einer Brücke. Die...