- Krankheit der Stunde: Allgemeine Angst -
Ich komme aber nicht nur im Paket mit Problemen und meine Krankheiten haben nicht immer nur negative Auswirkungen. Manchmal kann man meine Besonderheiten auch nutzen. Sogar zu meinen Gunsten, wenn man sie richtig einsetzt. Denn ich bin ein kleiner Angsthase. Ich habe vor allem und jedem Angst. Zumindest, wenn man es mir schrecklich genug verkauft, oder ich genug Erfahrung damit gesammelt habe, um zu wissen, dass es schiefgehen könnte.
Ja, ich schaue dich an, Deutsche Bahn. Ich habe Angst vor dir. Weil ich einfach zu oft nicht wusste, ob und wie ich zuhause ankomme. Dabei hast du ein Klo und ich mag Klos. Aber deine Bahnhöfe haben manchmal keine und wenn, dann kosten sie mehr Geld als eine Kugel Eis. Und da setzt du einen teilweise aus, so dass man ungeplant dort sitzt und nicht weiß, wann man wie weiterkommt.
Aber um die Bahn soll es ja gar nicht gehen. Stattdessen bin ich gerade etwa 11. Und seit Wochen habe ich etwas am Fuß, mit dem ich kaum laufen kann. So ganz sicher sind wir uns nicht, ob es jetzt ein Hühnerauge oder eine Warze ist. Da Warzen normalerweise aber ansteckend sind, wenn man daran herumpuhlt, und es bei dem einen dicken Ding an meinem Fußballen blieb, nehme ich an, es war ein Hühnerauge.
Wir haben es jedenfalls auf beides hin behandelt. Hühneraugenpflaster, Warzenvereiser, nichts wollte helfen. Nicht einmal die Dinge, die meine Kinderärztin mir aufschreibt. Noch immer tut das Laufen weh.
Also fasst sie eines Tages einen Entschluss. Sie schaut mich ernst an und sagt mit für sie wirklich dramatischer Stimme: "Du kommst morgen früh wieder. Wenn das Ding bis dahin wirklich nicht weg ist, dann hilft wohl gar nichts anderes mehr. Dann schneide ich es dir raus." Sie zeigte mir ein steril eingeschweißtes Skalpell.
Heute denke ich mir, dass sie das vielleicht gar nicht durfte. Das ist ja doch ein Eingriff, wenn auch ein kleiner. Den darf eine normale Kinderärztin vermutlich nicht. Für meinen Leberfleck musste ich ja auch extra zum Chirurgen und nicht nur zum Hautarzt. Aber mein 11jähriges Ich heult Rotz und Wasser vor Panik. Die Nacht über schlafe ich kaum. Ich habe Angst vor diesem sehr scharf aussehenden Messer, weil schon Spritzen und Blutabnahmen bei mir wirklich höllisch weh tun. Wie sehr schmerzt dann etwas, was dutzendmal größer ist?
Als ich am nächsten Morgen beim Arzt den Socken ausziehe, geschieht ein Wunder - zumindest fühlt es sich so an: Das Warzen-Hühneraugen-Monstrum ist verschwunden, einfach so über Nacht. Mein Fuß tut plötzlich auch gar nicht mehr weh.
Obwohl es ja eigentlich heißt, dass Spaß und Freude dabei helfen, gesund zu werden, kann bei jemandem wie mir auch schlichte Panik helfen, die körpereigenen Heilkräfte zu mobilisieren. Chapeau, Tante Doc. Und vielen Dank dafür.
Aber die Frau wusste auch sonst, wie sie mich zu nehmen hatte.
Nun schreiben wir wenige Wochen vor meinem achtzehnten Geburtstag. Ich bin eigentlich nur zu einer letzten Abschlussuntersuchung da, solange ich sie noch habe. Denn danach muss ich zu ihrem Mann, der Allgemeinmediziner ist, und den ich nicht wirklich leiden kann.
Aber ich hab einige Kratzer, die leicht entzündet sind. Von der Gartenarbeit, wenn ich mich recht erinnere. Rosen sind halt doch wehrhafter als so ein kleines Menschlein wie ich. Und ich helfe leider nicht so oft im Garten, dass ich wirklich wüsste, wo ich aufpassen muss, um mich nicht zu verletzen.
Meine Ärztin schaut also in ihre Unterlagen und stellt fest, dass ich mit der Tetanusspritze überfällig bin. Ich will aber nicht. Wie gesagt, das tut bei mir extrem weh. Ich habe also eine ungeheure Angst vor Spritzen, Blutabnahmen und allem, bei dem mir irgendwer irgendwas in meinen Körper stopfen will. Selbst das Ding, um ins Ohr zu leuchten, macht mir Panik, dabei ist es nicht schmerzhaft, nur ein unangenehm und macht eklige Geräusche, wenn es an der Ohrwand entlang kratzt.
Das weiß meine Ärztin natürlich, kennt sie mich doch seit 12 Jahren.
"Also, das ist natürlich deine Entscheidung", sagt sie also. Wieder dieser dramatische Ton, als würde sie mir sagen, dass ich einen Hirntumor habe. Von der so fröhlich-resoluten Frau ist man das gar nicht gewöhnt. "Aber du sagst, du hast die Kratzer schon seit gestern?"
Ich nicke und sie macht einen sehr betroffenen Gesichtsausdruck. „Es muss natürlich nichts passieren", erklärt sie. „Aber wenn du dir mit dem Kratzer da Tetanus eingefangen hast, ist morgen der letzte Tag, um dein Leben zu retten. Wenn du erst einen Wundstarrkrampf hast, verläuft das sehr oft tödlich, und die Zeit, den jetzt noch mit der Impfung zu verhindern, läuft ab."
Sie schaut mich lange und eindringlich an und entlässt mich dann aus dem Sprechzimmer.
Es folgt natürlich wieder eine sehr unangenehme Nacht und am nächsten Tag jagt man mir eine Spritze in den Körper. Der unglaubliche Schmerz, wenn das Metall langsam in deiner Ader hin und her kratzt, ist immer noch besser, als unter Schmerzen zu sterben.
Nur, dass ich nicht gestorben wäre, das ist mir heute klar. Man geht von unter 15 Infektionen im Jahr aus. Und auch, wenn sehr viele Menschen heute natürlich geimpft sind, halte ich die Zahl doch für ein Indiz, dass meine herzallerliebste Ärztin einfach nur wollte, dass ich Impfschutz habe, und wusste, dass sie mich dafür piesaken muss. Dass ich zwar logisch weiß, dass Impfen eine sehr gute Idee ist, die Angst mich aber doch davon abhält, wenn nicht eine andere Angst noch größer ist.
Liebe Leser, solltet ihr also Familie oder Arzt eines solchen Angsthasen sein, wisst ihr nun, wie ihr ihn austricksen könnt. Aber gebt ihm hinterher wenigstens einen Lolly oder ein Plüschtier zur Belohnung für seinen Mut. Jap, ich kauf mir noch heute bei sowas gern ein Plüschtier.
Da fällt mir ein, Tetanus ist schon wieder ein Jahr überfällig ...
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Unter drei Augen
Non-FictionBiografisches aus dem Leben einer Schwerbehinderten in Deutschland. Anekdoten, Zahlen und Fakten. "Ich bin all das. Ich bin all meine Krankheiten. Die leichten und die schweren. Die, die nur in ganz bestimmten Situationen eine winzige Rolle spielen...