- Zu Behindertenrecht in Theorie und Praxis -
Wie angekündigt, will ich nun darauf zurückkommen, warum es so schwer ist, gehört zu werden. Zumindest, wenn man behindert ist.
Dabei ist die Lage auf dem Papier gar nicht so schlecht. Auf dem Papier sind wir alle gleichgestellt. Denn 2006 beschlossen die Vereinten Nationen Regeln, wie die Mitgliedsstaaten mit Behinderten umgehen sollten. Dabei ist Behinderung hier nicht nur als die körperliche, geistige oder psychische Eigenschaft einer Person zu verstehen, sondern schließt auch ein, wie sie von ihrer Umgebung oder dem System behindert, also eingeschränkt wird.
Auch Deutschland hat die so genannte UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, also anerkannt. Grob zusammengefasst steht dort, dass die Staaten verpflichtet sind, dafür zu sorgen, dass Behinderte uneingeschränkt an allen Bereichen des Lebens teilhaben dürfen. Nicht nur müssen Sie sicherstellen, dass Behinderte keine Nachteile im Erwerbsleben haben, sondern auch in der politischen und sozialen Teilhabe oder auch nur der Freizeitgestaltung dürfen sie aufgrund ihrer Behinderungen nicht benachteiligt sein. Und das schließt nicht nur offene Diskriminierung ein, sondern auch strukturelle Hindernisse.
Sprich: Der Staat hat die Pflicht, dafür zu sorgen, dass körperliche, psychische und geistige Besonderheiten eines Menschen zu keinerlei Nachteil führen. Und diese Regelung trat bereits 2008 in Kraft. Zum Zeitpunkt meines Schreibens vor 10 langen Jahren.
Aber was ist seitdem geschehen? Gehört hat man nichts, nicht wahr? Nicht einmal als Betroffener, ihr habt da also nichts verpasst, nur weil ihr vielleicht nicht drauf geachtet hat.
Oh, es gibt nette kleine Beiträge von Extra3, wenn die Bahn mal wieder Rollstuhlfahrern nicht ermöglicht, zum Zug zu kommen, weil die Fahrstühle zum Gleis wieder kaputt sind oder gar über Jahre hinweg nicht repariert werden. Oder, wenn Behörden keine Rollstuhlrampe haben. Und das ist auch wichtig, dass das herausgestellt wird. Dass darauf hingewiesen wird. Aber einerseits findet das eben fast nur in Satiremagazinen statt, die eh nur die Leute schauen, die schon politisch interessiert sind und nicht ganz blind durchs Leben laufen. Andererseits hört man nie davon, dass etwas dadurch anders wird. Nicht im Kleinen, wie durch die Reparatur der erwähnten Fahrstühle, aber erst recht nicht im Großen. Der gesamtpolitische Überblick fehlt da seit langem.
Woran das liegt? Nun, für die Erhebung gesellschaftlicher Missstände ist zunächst einmal die Wissenschaft zuständig. Hier die Soziologie, Politologie, wenn man Glück hat noch die Forscher im Bereich der Rechtswissenschaften oder der sozialen Arbeit. In kleinen Unterthemen auch die Mediziner, wenn es um Rehabilitation geht.
In diesem Forschungsbereich habe ich gearbeitet, in der Soziologie. Kurzzeitig. Ich habe Studien zur Situation Behinderter in Deutschland gesichtet. Studien zu den Kurkliniken, Studien zur Evaluation der Behindertenrechtskonventionen, Studien zur Lage allgemein.
Und ich musste feststellen, dass keiner auf die Idee kommt, uns mal selbst zu fragen. Wirklich. Ganzheitlich. Alle Arten von Behinderten und nicht nur in ganz speziellen Zusammenhängen.
Die meisten Studien, die ich gesehen habe, nutzen entweder nur nüchterne Daten der Ämter: Wie viele Behinderte gibt es, welchen Erwerbsstatus, welche Nationalität und welches Alter haben sie. Dabei wird teilweise unterschieden, welchen Grad der Behinderung sie haben, teilweise nur, welche Art sie haben. Also nur ob körperlich, geistig oder psychisch. Ohne Definition, wie genau man das einteilt, obwohl das, wie wir im ersten Exkurs gesehen haben, schon nicht immer ganz korrekt erhoben wird.
Aber genauer ins Detail geht man hier nicht. Jemand ohne Hand wird hier teilweise genauso eingestuft wie ein Blinder oder ein Querschnittsgelähmter - sofern der nicht wieder den psychisch Kranken zugeordnet wird, obwohl jeder der drei teils völlig andere Hindernisse im Alltag ertragen muss. Und selbst wenn man das mal wirklich korrekt erheben könnte, sagen die reinen Zahlen, wie viele von uns es gibt und ob sie arbeiten, noch lange nichts dazu aus, wie es uns geht. Ob wir mit Hindernissen zu kämpfen haben.
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Unter drei Augen
No FicciónBiografisches aus dem Leben einer Schwerbehinderten in Deutschland. Anekdoten, Zahlen und Fakten. "Ich bin all das. Ich bin all meine Krankheiten. Die leichten und die schweren. Die, die nur in ganz bestimmten Situationen eine winzige Rolle spielen...