Aus der Traum

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- Krankheit der Stunde: Depression; Triggerwarnung: Explizite Selbstmordgedanken! -

Ich habe Sozialwissenschaften studiert, um die Welt besser machen zu können. Um genau das Problem zu besiegen, von dem ich oben schrieb. Denn in vielen Bereichen unseres Lebens gibt es noch nicht genug wissenschaftlich erhobene Daten, auf denen man sein Handeln aufbauen kann. Und wenn es welche gibt, sind die Wissenschaftler oft nicht laut genug, um die Politiker zu zwingen, sie wahrzunehmen. Zu handeln. Hier wollte ich ansetzen. Ich wollte die Welt aus den Angeln heben, oder zumindest eine kleine Änderung anstoßen. Das kleinste Bisschen, das die Welt irgendeines Menschen zumindest etwas verbessert.

Und endlich wurde mein Traum wahr, nach 17 Monaten Jobsuche und unzähligen Ablehnungen oder einfachem Ignorieren meiner Bewerbungen.

Ich bekam eine Stelle angeboten, bei der ich etwas erforschen konnte, wo die Datenlage miserabel war. Wo ich noch etwas bewegen konnte.

Es war leider keine Stelle in der Bildungs- oder Literaturforschung, meine zwei Lieblingsbereiche der Sozialwissenschaften, aber Behindertenforschung. Also etwas, das mein Leben beeinflusst. Wo ich nicht nur für andere, sondern gleich auch noch für mich selbst etwas verbessern konnte. Dachte ich.

Denn nicht nur, dass ich so auf genau das Problem traf, dass ich oben beschreibe, nämlich, dass noch nie jemand sich wirklich um die Behinderten selbst gekümmert hat und ich eine solche Studie nach dem anderen lesen musste. Von der jede neue mehr Verzweiflung und Wut bei mir auslöste.

Nein, meine Aufgabe war auch noch, es genauso zu machen. Ich sollte Fachkräfte befragen. Sachbearbeiter, Sozialpsychologen und ehrenamtliche Helfer danach befragen, wie ihre Kompetenzen sind und wie sie damit umgehen, wenn jemand ihre Hilfe braucht. Auf eine Art, die auch noch wissenschaftlich gesehen Unsinn ist, denn wer gibt schon in Befragungen offen zu, dass er selbst inkompetent ist? Aber auch eine Art, die den Behinderten eben wieder nichts nützt. Denn um zu wissen, ob ihre Bedürfnisse auch nur von den Behördenmitarbeitern erfüllt werden, müsste man erstmal genau diese erheben. Und das wurde nicht getan.

Ich war am Boden zerstört. Und hinzu kam, dass die Stelle leider zumindest für meine Arten der Behinderung nicht ausgelegt war. Ich arbeitete wegen meiner damals noch leichten Depression bis zu sieben Tage die Woche, weil ich mich nicht dauerhaft am Stück konzentrieren kann. Aber angerechnet für den Urlaub wurden mir nicht einmal fünf, sondern nur drei. Weil ich ja nur 20 Wochenstunden leisten musste.

Zwei Tage die Woche musste ich pendeln, obwohl ich mit meinem Rücken kaum Gewicht tragen darf und ich, wie gesagt, Probleme habe, aus dem Haus zu kommen. Pendeln ist generell schon schwer für mich, aber mit Übernachtung in immer neuen Umgebungen, in denen ich noch keine Sicherheit habe? Und Pendelzeiten von drei und mehr Stunden, mit einem so unplanbaren Unternehmen wie der deutschen Bahn? Das alleine reichte schon aus, um jeden Arbeitstag mit einer Panikattacke zu beginnen.

Außerdem musste ich mein Glasauge an diesen Tagen jeweils mindestens 12 Stunden tragen, was spätestens am jeweils zweiten Tag zu fast unerträglichen Schmerzen führte und die auch an den fünf Tagen zuhause nicht besser wurden.

So konnte ich an den Tagen, an denen ich tatsächlich zuhause arbeiten durfte, nicht mehr weiter rausgehen als ins Dorf, wo man mich schon ohne Auge kennt.

Der Planungsaufwand selbst, um überhaupt zur Arbeit zu kommen, waren auch noch mal mindestens 5 Stunden die Woche. Bahnzeiten und Preise vergleichen, Hotels finden, anfragen, noch mal anfragen, weil sie nicht antworteten, neue Hotels finden und wieder anfragen.

Für jemanden wie mich, der Routinen und Sicherheit braucht, ein Horror. Am Tag der Hinfahrt noch nicht sicher zu wissen, wo man die Nacht verbringt, ob das Zimmer wirklich behindertengerecht ist - Spoiler: War es nie, immer musste ich Koffer und Rucksack mehrere Stockwerke hoch tragen, ohne Fahrstuhl -, hat mich zermürbt.

Unter drei AugenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt